Wie Stahl Riesa Geschichte schrieb

Sportplatz Kolumne

Lange Zeit schon hatte sich kein Fernsehteam mehr auf einen Sportplatz verirrt, wenn dort ein Fußballverein aus der "Sportstadt" Riesa sein Können zur Schau stellte. Stahl Riesa, ehemals Betriebssportgemeinschaft, DDR-Oberligist und Vorzeigeclub der Stadt, hatte nach der Wende einen herben Bedeutungsverlust hinnehmen müssen. Selten genug, dass der Verein überhaupt noch einmal oberhalb der Sachsenliga kickte, war 2003 endgültig Schluss: Stahl hatte sich in die Pleite gewirtschaftet, und zwar gründlich.

Noch im selben Jahr aber trafen sich sieben - wie das bei solchen Gelegenheiten immer so schön heißt: "fußballverrückte" - Herren "mit dem Ansinnen, den Namen Stahl Riesa zu erhalten und fortzuführen". Sie gründeten den Traditionsverein TSV Stahl Riesa kurzerhand neu, und man fing von vorne an, ganz unten - in der zehnten Liga. Die Traditionssportler erhielten Verstärkung durch Kicker, die aus der Konkursmasse des Vorgängers rekrutiert worden waren, und dann reihten sie Sieg an Sieg - mal gewannen sie 9:2, mal 17:1, auch mal 20:0 gegen Mannschaften wie Königsblau Gohlis, Traktor Kalkreuth, Lok Wülknitz. Sie stiegen dreimal hintereinander auf und entdeckten, mittlerweile in der siebenten Liga angelangt, eher zufällig, dass sie im Begriff standen, etwas Einmaliges zu schaffen, ja, womöglich Geschichte zu schreiben. Sie waren kurz davor, einen deutschen Rekord zu brechen: den der längsten Punktspielserie ohne Niederlage, laut "Guinnessbuch" gehalten vom TSV Buchbach, der in 75 aufeinanderfolgenden Spielen nicht ein einziges Mal verloren hatte.

Am 27. August war es soweit: Leider nicht im eigenen, formidablen Stadion, der "Nudelarena", sondern beim Auswärtsspiel auf dem Kartoffelacker in Kesselsdorf sollte gegen die dort ansässige SG das 76. Punktspiel ohne Niederlage heimgeschaukelt werden. Extra angereist waren Fernsehteams aus der ganzen Republik: MDR! ZDF!! Der TSV gewann 3:1, die Zuschauer jubelten: Rekord! Die Spieler duschten mit Sekt und jubelten ebenfalls: Rekord! Eine grandiose Freudenfeier im Bewusstsein, einen historischen Tag zu erleben - fast wie damals, 1968, als der BSG Stahl der erste Aufstieg in die DDR-Oberliga gelungen war.

Kurze Zeit später jedoch meldeten sich die treuen Paladine eines Neuntligisten aus dem Niedersächsischen: Sie waren angesichts des Medienrummels um den TSV Stahl hellhörig geworden und erklärten nun, ihr eigener Verein, der Heseper SV, sei in den neunziger Jahren nicht weniger als 97 Punktspiele in Folge ohne Niederlage geblieben und mithin der einzig wahre Rekordhalter. Die Behauptung zu untermauern, schickten sie eine akkurate Auflistung dieser Serie, errungen im Kreisklassenkampf gegen die dritten, vierten, fünften, sechsten und siebenten Mannschaften der Vereine aus dem Kreis Bentheim, inklusive der zwei Unentschieden gegen die achte(!) Mannschaft von Vorwärts Nordhorn.

Zweifel an der Richtigkeit der Heseperschen Einlassungen blieben, immerhin gibt es keinerlei offizielle Bestätigung des sogenannten Rekords. Aber es schien, als hätten die niedersächsischen Spielverderber bei den Stahl-Kickern das ins Wanken gebracht, was man im Fußballplatt gemeinhin als den "unbedingten Siegeswillen" bezeichnet. Plötzlich war der Schwung raus. Und rumms! Am 23. September, nach 76 Siegen und zwei Unentschieden, verlor der TSV Stahl erstmals und - nur eine Woche darauf - gleich noch einmal. Und dann kam, was kommen musste. Trainer Werner Lukoschek, der die Mannschaft seit der Neugründung geführt hatte, der Erfolgstrainer, der Wundertrainer wurde entlassen. Ja, selbst in der siebenten Liga greifen die unbarmherzigen Mechanismen des Fußballgeschäfts, selbst ein verdienter Mann wie Lukoschek ist ihnen ausgeliefert.

Als neuen Coach verpflichtete man den 39 Jahre alten Rolf Nußbaum, der kurz zuvor nach sieben Niederlagen in Folge bei Ligakonkurrent Motor Trachenberge freiwillig zurückgetreten war. Stahl präsentierte ihn als einen Mann mit 25-jähriger Berufserfahrung, war er doch "schon mit 14 Jahren Übungsleiter im Nachwuchs". Immerhin gewann die Mannschaft nun wieder - besonders eindrücklich beim 5:0 gegen Motor Trachenberge. Der Grundstein für die nächste Rekordserie des TSV Stahl.


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