Wie Tom und Jerry

Literatur In seinem neuen Roman "Karte und Gebiet" entwickelt Michel Houellebecq ein zuvor ungekanntes Maß an Selbstironie. Ansonsten ist alles wie immer

Was steht beim französischen Skandalautor Michel Houellebecq eigentlich zuhause im Buchregal? Die Antwort gibt sein neuer Roman Karte und Gebiet. Zumindest für den fiktiven „Michel Houellebecq“, der in diesem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten, mit autobiografischen Elementen spielenden Roman über den Kunstbetrieb von einem wahnsinnigen Mörder auf bestialische Weise umgebracht und in kleine Einzelteile zerschnitten wird. In dessen Regal – in einem ansonsten fast unmöblierten Landhaus – stehen Karl Marx und ein paar Frühsozialisten, unter anderem auch Proudhon. Hätte man gar nicht gedacht von jemandem, den man glatt als literarischen Chefpropagandisten des postideologischen Zeitalters bezeichnen könnte und der gerne den Frauen- und Moslemhasser gibt.

Marx, genauer ein paar Bände der Marx-Engels-Werk-Ausgabe, standen ja kürzlich auch im Lidl-Werbeprospekt in einem Regal. Also: Nicht überall, wo Marx drauf- oder drinsteht, ist wirklich mit linken Inhalten zu rechnen. Dabei gelingt es Michel Houellebecq in seinem neuen Buch, durchaus über seinen Schatten zu springen. Er entwickelt ein ungekanntes Maß an Selbstironie, wenn er etwa im gestreiften Pyjama, also wie ein Knacki, die Haustür öffnet oder als Radikalvegetarier wohlmeinende Vorträge hält, um später vor Fett triefende Chorizoscheiben in sich hineinzustopfen. Aber abgesehen davon ist im neuen Houellebecq alles wie immer. Der Erzähler, ebenso wie der fiktive Houellebecq leiden vor sich hin, an der einen oder anderen Stelle werden auch die bösen Linken geschmäht, die das eigentliche Wesen der Welt nicht verstehen und so abwegige Dinge tun, wie finanzielle Anreize abzuschaffen und dergleichen. Pfui! Mit dieser Attitüde erinnert Houellebecq an den Spiegel-Autor Jan Fleischhauer, der auch immer mit diesem evangelischen Jammergesicht durch die Gegend läuft.

Dabei ist die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus fester Bestandteil des Roman-Plots. Auf den letzten Seiten wird ein Ausblick auf die Zukunft gegeben, der wie immer bei Houellebecq etwas forciert Provozierendes hat. Er lässt 2036 seinen Schriftstellerkollegen Frederic Beigbeder im Alter von 71 Jahren das Zeitliche segnen – friedvoll im Gegensatz zum bösen Houellebecq, der mit dem Laserskalpell zersägt wurde. Daneben, so erfahren wir, jagt in der Zukunft eine Finanzkrise die andere, was aber das wundervolle Frankreich nicht stört. Denn dort lebe man von Landwirtschaft und Tourismus. Hurra. Da denkt man doch gleich an die beschaulichen Landschaften aus den Louis-de-Funes-Filmen. Apokalyptisch, angsteinflößend und unkorrekt, wie die Houellebecq’schen Romane in ihrer Auflösung sonst sind oder gerne sein wollen, ist das keineswegs. Eher beschleicht einen das Gefühl, den so- und sovielten Teil einer immer dröger werdenden Reihe ohne weiteres Entwicklungspotenzial in Händen zu halten. Bei aller handwerklichen Virtuosität, die auch hier wieder zum Einsatz kommt: Michel Houellebecq dünstet in seinen Büchern das Lebensgefühl der neunziger Jahre aus. Immer noch. Etwas anderes kann er offenbar nicht. Das ist schal, weil diese Sicht auf die Welt schlicht überholt ist. Kein Wunder, dass Houellebecqs literarisches Alter Ego draufgeht – zerlegt in seine Einzelteile wie eine Figur aus Tom und Jerry.


Karte und GebietMichel Houellebecq Dumont 2011, 400 S., 22,99

Florian Schmid schrieb im Freitag zuletzt über Jonathan Lethems Epos Chronic City

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