Rot-Grün in Berlin steuert einer Arbeitslosenquote jenseits der Vier-Millionen-Grenze entgegen. Die jüngsten Zahlen aus Nürnberg - fast 3,8 Millionen Menschen ohne Arbeit - lassen daran kaum Zweifel. Doch wird auf die Negativ-Dynamik des Arbeitsmarktes nach wie vor mit keiner dynamischen Arbeitmarktpolitik reagiert. Vorrang hat ein administrativ-autoritäres Konzept, das Zwangsmaßnahmen einschließt.
Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung erweckte noch bis in das vergangene Jahr hinein den Eindruck, sie würde sich zumindest in einem Punkt von der Vorgängerregierung unterscheiden - der Rückbesinnung auf die Binnennachfrage. Während sich das Kabinett Kohl zuletzt allein auf die Angebotsseite konzentriert hatte - sprich: auf Deregulierung f
f Deregulierung für die Beschäftigten und Arbeitszwang gegenüber Beschäftigungslosen -, setzte das Kabinett Schröder zunächst auf Konjunkturpolitik und mehr Nachfrage. Es ging um eine Beschäftigungspolitik, die neben einer sozial abgefederten Modernisierung der Wirtschaft, steuerpolitischen Maßnahmen und einer Entlastung der Unternehmen auch die Massenkaufkraft anheben wollte. Doch ging dieses Konzept vor allem deshalb nicht auf, weil man sich fast blind auf den aufnahmestarken US-Markt verließ und zudem ein Steuerkonzept favorisierte, das mehr auf die Unternehmen als die Arbeitnehmer zugeschnitten war.Nun lahmt die Konjunktur, weil sich die Wirtschaft trotz aller Begünstigung nicht zum offensiven Investitionsschub entschließen mochte und bei den abhängig Beschäftigten angesichts viel zu niedriger Lohnabschlüsse steuerlicher Gewinn durch Preiserhöhungen aufgezehrt wurde. In der Konsequenz fallen die Konjunktur- und Arbeitsmarktdaten ein Jahr vor der Bundestagswahl so schlecht aus, dass sich die Regierung in eine administrativ-autoritäre Beschäftigungspolitik flüchtet. Die läuft wie bei Kohls Kanzlerfinale darauf hinaus, das Arbeitsangebot in den Vordergrund zu stellen und der Marktlogik folgend nur noch die Lösung anzubieten: Arbeitslose müssen in irgendwelche Nischen entsorgt werden.Diese Strategie soll einerseits die Arbeitsaufnahme erleichtern, andererseits den Bezug von Lohnersatzleistungen oder Sozialhilfe erschweren - statt aktiver Beschäftigungspolitik das Muster Zuckerbrot und Peitsche, flankiert von administrativem Geplänkel wie der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie unterschiedlichen Formen von Lohnsubvention.Diese Flucht in die Vergangenheit ist nicht nur kopflos, sondern auch unlogisch. Kopflos, weil das Aufnahmevermögen eines Niedriglohnsektors ebenso maßlos überzeichnet wird wie die reale Verfügbarkeit von Sozialhilfeempfängern für den Arbeitsmarkt. Unlogisch, weil wirkliche Chancen für Arbeitsmarktpolitik verspielt und falsche Schlussfolgerungen aus einer Parallelität von wachsender Arbeitslosigkeit und wachsendem Arbeitskräftemangel gezogen werden.Nur 220.000 Arbeitsplätze stehen für niedrig Qualifizierte zur VerfügungEs ist richtig, im vergangenen Jahr konnten nach Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) knapp eine Million Arbeitsplätze nicht besetzt werden. Doch 78 Prozent aller Angebote galten qualifizierten Bewerbern, während die Suche nach un- oder angelernten Beschäftigten 2001 den bislang niedrigsten Stand erreicht hat. Nicht mehr als 220.000 Arbeitsplätze stehen für niedrig Qualifizierte zur Verfügung - auch dies nur ein rein rechnerischer Wert. Selbst wenn die zeitliche und örtliche Mobilität der Arbeitslosen noch zu erhöhen wäre, dürfte es außerordentlich schwierig sein, 220.000 Neueinstellungen vorzunehmen. Es ist die alte Milchmädchenrechnung, Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot statistisch gegenüber zu stellen, ohne zu fragen, ob sich Angebot und Nachfrage auch in qualitativer Hinsicht decken. Die Nachfrage nach niedrig qualifizierten Arbeitskräften ist eben viel zu gering, um die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen oder arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger merklich zu senken. Nach wie vor leidet Beschäftigungspolitik unter einem eklatanten Mangel an Arbeit, derzeit noch verstärkt durch den Konjunktureinbruch und einen Abbau von Überkapazitäten im IT-Sektor.In diesem Kontext wird die Zuwanderungsdebatte in unvertretbarer Weise instrumentalisiert, indem suggeriert wird, Zuwanderung wäre hauptsächlich notwendig, weil einheimische Arbeitskräfte entweder arbeitsunwillig oder nicht ausreichend qualifiziert seien. Beides ist nachweislich unzutreffend. Richtig ist, dass die Bundesrepublik aus demographischen Gründen langfristig in eine Phase zunehmenden Arbeitskräftemangels steuert, wobei eine Modellrechnung des IAB bis 2015 allerdings nur mit einem leichten Rückgang des Erwerbspotenzials kalkuliert. Ein Trend, der mühelos mit der Mobilisierung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials auszugleichen wäre. Kurzfristig ließen sich laut IAB-Prognose sechs Millionen zusätzliche Arbeitskräfte mobilisieren - davon 3,9 Millionen Arbeitlose und zwei Millionen aus der stillen Reserve. Die Zuwanderungsdebatte bedient also nicht nur die Stammtische in ihren Aggressionen gegen vermeintlich arbeitsunwillige Inländer, sie lenkt auch von den eigentlichen Aufgaben einer zukunftsfähigen Beschäftigungspolitik ab.Weiterbildung in der Arbeitslosigkeit wieder zu einem Rechtsanspruch erhebenWollte man sich darauf konzentrieren, das unbeschäftigte Potenzial des Arbeitsmarktes zu aktivieren, was ja äußerst sinnvoll wäre, erscheinen dazu völlig andere Schritte nötig. Die jetzt diskutierten Zwangsmaßnahmen jedenfalls oder eine bloß administrativ gestraffte Arbeitsvermittlung sind deplazierte Instrumente. Sinnvoller scheint ein bildungs- und sozialpolitisches Maßnahmebündel. Es müsste zu einer Modernisierung des Arbeitsmarktes führen, die nicht nur unter dem Label Flexibilisierung und Deregulierung stattfindet. Was Not täte, wäre qualitative Angebotspolitik, die kein Angebot von Arbeitskräften erzwingt, sondern dasselbe nachhaltig verbessert. Voraussetzung wäre allerdings, dass Weiterbildung in der Arbeitslosigkeit wieder zum Rechtsanspruch wird, sie sich auf eine allgemeine Weiterentwicklung des Arbeitsvermögens konzentriert und nicht nur auf die Vermittlung enger fachlicher Fertigkeiten. Notwendig wäre eine Art grundlegender Neuqualifizierung, die sich an das System der dualen Erstausbildung anlehnt. Schwer vermittelbare, ältere und dem Arbeitsleben entwöhnte Menschen könnten die Möglichkeit eines zweiten Berufseinstiegs erhalten und in einer Melange von praktischer und theoretischer Ausbildung tatsächlich einen neuen Beruf und nicht nur eine neue Tätigkeit erlernen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass über Facharbeitermangel geklagt und lebenslanges Lernen propagiert wird, klassische Berufsausbildung aber auf die Schulabgänger beschränkt bleibt.