Wieder nötig

100 Jahre Willy Brandt hat sich gern mit den Mächtigen aus der Wirtschaft angelegt. Eine persönliche Erinnerung
Ausgabe 49/2013

Mit Willy Brandt konnte man Pferde stehlen. Im übertragenen Sinne natürlich. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein führender Politiker oder eine führende Politikerin und erfahren vor einer wichtigen Wahl, dass die Kapitalkräftigen des Landes gegen Sie eine Riesenkampagne planen, noch dazu aufgeteilt auf verschiedene Briefkasteninitiativen und anonym und mit bösartigen persönlichen Angriffen. Ich habe Politiker erlebt, die sich mit den Mächtigen aus der Wirtschaft partout nicht anlegen wollten. Willy Brandt reagierte ganz anders, als im Frühsommer des Jahres 1972 und gut vier Monate vor der entscheidenden Wahl ruchbar wurde, dass CDU und CSU von mächtigen Wirtschaftsgruppen und Medienkonzernen unterstützt werden und diese Unterstützung über anonyme Absender gesteuert werden sollte.

Im Wahlkampf griffen knapp 50 anonyme Gruppen mit weit über 100 Werbeanzeigen in die Wahlauseinandersetzung ein. Nach damaligen Berechnungen kostete diese Intervention mindestens 34 Millionen DM. Diese Millionen kamen auf die Etats der CDU und der CSU obendrauf; vor allem erledigten sie mit übelsten Verleumdungen die Drecksarbeit für die Union. Am Ende hatten die Union und ihre Hilfstruppen viermal so viele Anzeigen geschaltet wie die SPD. Dabei muss man wissen, dass Anzeigen damals noch das Hauptwerbemittel in Wahlkämpfen waren.

Fast hoffnungslos verloren

Willy Brandt und die SPD wären hoffnungslos verloren gewesen, wenn Willy Brandt nicht dem Vorschlag gefolgt wäre, diese Kampagnen ans Licht zu holen, sie zu einem großen Thema und damit zugleich unschädlich zu machen. Die baden-württembergische SPD war schon zuvor, also im April 1972, einem Testversuch des Großen Geldes ausgesetzt. Sie hat sich nicht gewehrt und verloren.

Am 8. Juli 1972 habe ich Willy Brandt davon unterrichtet, dass wir eine ähnliche Kampagne noch schlimmeren Ausmaßes vor der Bundestagswahl erwarteten. Ich war damals verantwortlich für seinen Wahlkampf und riet ihm, sich das nicht gefallen zu lassen und stattdessen zu kontern. Der allenthalben als Zauderer und Willy Wolke abgewatschte Willy Brandt brauchte ein paar Sekunden, um den Vorschlag positiv zu bescheiden.

Er hat dann in seinen öffentlichen Äußerungen immer wieder von der Intervention des Großen Geldes gesprochen und seine Zuhörer aufgefordert, sich gegen diesen Bruch der demokratischen Regeln zu wehren. Die SPD hat das Thema in nahezu jeder dritten Tageszeitungsanzeige aufgegriffen und dort beispielsweise festgestellt: „Anonyme Millionen fließen für Barzel: Was hat er dafür versprochen?“ Ein eigenes Flugblatt zum „100-Millionen-Ding“ wurde verteilt, mit einer Auflage von mehr als fünf Millionen. Der Klassenkampf von oben war endgültig gekontert, als Willy Brandt in der Elefantenrunde der Parteivorsitzenden im Fernsehen vier Tage vor der Wahl darauf verweisen konnte, dass „heute in der Bild-Zeitung allein acht Anzeigen“ dieser anonymen Absender standen. Damit war klar: Willy Brandts Entscheidung, sich zu wehren, hatte die Wirkung der Kampagne umgekehrt, wie beim guten Judokampf.

Später musste ich mir dann von anderen Führungspersonen der SPD anhören, ich hätte mit dem Rat an Willy Brandt und mit der dann darauf aufbauenden Gegenkampagne das Verhältnis der SPD zur Wirtschaft beschädigt. Dieser Vorwurf war in vieler Hinsicht abstrus. Die SPD hätte gar nicht gewonnen, wenn sie vor den kapitalkräftigen Rechtskonservativen gekuscht hätte. Sie hätte damals schon den Respekt vieler Bürgerinnen und Bürger verloren, die sich nicht mehr vertreten fühlen, wenn auch die SPD den Mächtigen zu gefallen sucht. Volksnah ausgedrückt könnte man auch sagen: Wenn sie dahin kriecht, wo es besonders warm ist – so wie der jetzige Fraktionsvorsitzende Frank Walter Steinmeier mit seiner Rede vor dem Arbeitgeberverband BDA, sinnigerweise auch am 19. November, dem Tag der Wahl von 1972.

Mit der Gegenwehr der damaligen Brandt-SPD haben gerade jene Menschen in unserem Land, denen es schlecht ging und die sich nicht mehr politisch vertreten sahen, zu hoffen begonnen, dass auch sie wieder in den politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Sie haben gemerkt, dass die SPD ihre Partei sein könnte und sie sind wählen gegangen. 91,1 Prozent der Wahlberechtigten, das ist mehr als je zuvor und je danach.

Die Fürsorge für jene Menschen, denen es nicht so gut geht, hatte damals Konsequenzen: Zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen für alle, Zugang der Arbeiterkinder zu den weiterführenden Schulen und Hochschulen, oder auch Hilfen für die Menschen jenseits der Stammwählerschaft, wenn dort Not herrschte. Typisch dafür war die Öffnung der Krankenkassen für die Familien von Landwirten. In der Region, in der ich aufwuchs, einem ländlichen Raum mit Kleinbauern, war vorher der Arztbesuch, selbst wenn Frau und Kinder richtig krank wurden, oft wegen der leeren Familienkasse verzögert worden. Seit dem Wirken von Willy Brandt und seinem Landwirtschaftsminister Josef Ertls nicht mehr.

Die Geschichtsschreibung nimmt übrigens von der Kampagne des Großen Geldes kaum Notiz. Offenbar ist es ihnen peinlich, was ihre Geistesverwandten in finanzstarken rechtskonservativen Kreisen inszeniert haben. Davon in den Geschichtsbüchern zu berichten wäre aber nötig, damit man für heute lernt. Zum Beispiel, dass es unter der Würde von vermeintlich linken Politikern ist, für Spekulanten einen Finanzplatz Deutschland zu schaffen, dafür zu deregulieren, die Gewinne beim Verkauf von Aktienpaketen von der Steuer zu befreien; in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition von 2005 zu erklären, die Finanzaufsicht solle nicht so genau hinschauen; die Steuern der gut Verdienenden und Vermögenden zu senken und der Mehrheit der Normalverdiener und Rentnern die Hauptlast zur Finanzierung des Gemeinwesens aufzubürden.

Heute ein Vorbild

Man hätte lernen können, dass es nicht angebracht ist, den Finanzjongleuren die Wettschulden mit Steuergeldern zu bezahlen, wenn sie sich verkalkuliert haben – mit einem Bankenrettungsschirm von 480 Milliarden Euro. In den vergangenen 15 Jahren ist von Sozialdemokraten, von Gerhard Schröder, Hans Eichel und Peer Steinbrück, von Franz Müntefering, Walter Riester und Frank-Walter Steinmeier eine Finanz- und Gesellschaftspolitik betrieben worden, die mit dem Ethos eines Willy Brandt nichts gemein hat. Er steht in Überlebensgröße im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Man sollte ihm jedoch wenigstens symbolisch die Augen verbinden, damit er diesen Niedergang nicht mit anschauen muss.

Wir hätten den Typus Willy Brandt heute dringend nötig. Was wir zunächst einmal bräuchten, wäre eine faire und gerechtere Geschichtsschreibung, ohne üble Nachrede, ohne Klischees vom Zauderer, vom depressiven alten Herrn, vom angeblichen Teilkanzler, der sich nur für Ostpolitik interessiert habe. Ich kläre über diese verfälschende Geschichtsschreibung auf, nicht aus Lust an der Vergangenheit, sondern weil ich Lust darauf habe, dass wir von diesem großartigen Politiker aktuell lernen.

Albrecht Müller war 1972 verantwortlich für den Wahlkampf von Willy Brandt, dann Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. Zuletzt erschien Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger im Westend Verlag

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