Wiepersdorf (9)

Textgalerie Dieser Abend, Bettina, es ist Alles beim alten. Immer Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben Denen des Herzens und jenen Des Staats. Und ...

Dieser Abend, Bettina, es ist
Alles beim alten. Immer
Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staats. Und noch
Erschrickt unser Herz
Wenn auf der anderen Seite des Hauses
Ein Wagen zu hören ist.

Michael Buselmeier
An die Könige schreiben

Hier ist das Versmaß elegisch / Das Tempus Praeteritum / Eine hübsche blaßrosa Melancholia / Durch die geschorenen Hecken gewebt." So, gleichsam romantisch-klassizistisch gestimmt, beginnt Sarah Kirsch ihren 1973 entstandenen Gedichtzyklus Wiepersdorf, der aus elf Teilen besteht. Wiepersdorf liegt, nahe Jüterbog, im Niederen Fläming, "diesem frühschlafenden Land-Strich hinter den Wäldern" (Kirsch).

Das U-förmig angelegte Dorf hat höchstens 200 Einwohner, und kaum jemand würde es einer Erwähnung wert finden, gäbe es nicht das Schloss gleichen Namens, Stammhaus der Arnims. Der Dichter Achim von Arnim ist hier 1831 als Gutsherr gestorben und beerdigt worden, auch die Gräber seiner Frau Bettina und mehrerer Nachkommen haben sich neben der Schlosskirche erhalten. Ende des 19. Jahrhunderts hat ein Enkel des Dichterpaars das Schloss im barockisierenden Stil umbauen lassen und den mit liebenswerten Skulpturen durchsetzten Park angelegt.

Zu DDR-Zeiten wurde Schloss Wiepersdorf als Erholungs- und Arbeitsstätte verdienter Künstler genutzt. Anna Seghers, Christa Wolf, Peter Hacks und eben auch Sarah Kirsch durchstreiften den Park und ergingen sich im nahen Kiefernwald (in dem sich auch eine russische Raketenstation verbarg). Seit 1992 unterhält die Stiftung Kulturfonds hier eines der größten Künstlerhäuser Europas. Pro Jahr werden etwa 60 Stipendiaten untergebracht und rund um die Uhr ernährt. Ihr Bezug zum Genius loci, das Interesse besonders der Jüngeren an der romantischen Haustradition, ist rückläufig, ja es geht, wovon ich mich selbst überzeugen konnte, vielfach gegen Null.

Für Sarah Kirsch war, das zeigt ihr Zyklus mit jeder Zeile, das Überlieferte noch auf eine fast unkomplizierte Art gegenwärtig. Die steinernen Götter und Zwerge im Park lächelten ihr zu, verwickelten sie in Gespräche. Vor allem die reifere Bettina, die nach dem Tod Arnims ihr "drittes Leben" als Schriftstellerin begonnen hatte, wird emphatisch als Gleiche begrüßt: Bettina! Hier / Hast du mit sieben Kindern gesessen, und wenn / Landregen abging / Muß es genauso geklappert haben Ende Mai / Auf die frisch aufgespannten Blätter - ich sollte / Mal an den König schreiben.

Vom Schreiben an den König oder die Könige ist auch im vorgestellten Gedicht die Rede. Bettina von Arnim war eine geniale Briefschreiberin. Enthusiastisch, oft überspannt, hat sie ihr Herz in ihre berühmten Briefwechsel mit Goethe, Clemens Brentano, der Günderode oder Achim von Arnim gleichsam hineingeschrieben. Aber sie hat auch Briefe mit Friedrich Wilhelm IV. gewechselt und sich bemüht, den Preußenkönig zu Sozialreformen zu bewegen. Sie hat sich ihm gegenüber für die Kranken und für arme Weberfamilien eingesetzt, auch für aus dem Amt geworfene Demokraten und verurteilte Revolutionäre gestritten - mit bescheidenem Erfolg.

Dem entspricht auch die Abendstimmung in Sarah Kirschs genauem, kargem, schön verschlüsseltem Gedicht: Machen wir uns keine übertriebenen Hoffnungen, es bleibt doch alles irgendwie beim alten; wir beide sind nun mal "allein" beim Schreiben an unsere "Könige" (des "Herzens" wie des "Staates"). Irritierend jedoch der Schluss, das unvermutete Erschrecken Bettinas wie des lyrischen Ich, "wenn auf der anderen Seite des Hauses / Ein Wagen zu hören ist". Wer kommt darin vorgefahren, bleibt sitzen oder steigt aus? Ein Bote der Macht oder des Herzens? Und mit welcher - vermutlich bösen - Nachricht? Ist es gefährlich, den Mächtigen so nahe zu treten? Warten am Ende gar Spitzel auf der anderen Straßenseite im Auto?

Der Wiepersdorf-Zyklus erschien 1976 in dem Band Rückenwind im Aufbau Verlag. Ob die Zensoren schliefen? Ein Jahr später verließ Sarah Kirsch die DDR.

Sarah Kirsch ist 1935 in Limlingerode (Südharz) geboren. Sie lebt seit 1983 in Tielenhemme (Schleswig-Holstein). Das vorgestellte Gedicht - es ist das neunte aus dem Wiepersdorf-Zyklus - stammt aus dem Band Rückenwind, Langewiesche-Brandt Verlag, Ebenhausen bei München, 1977.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden