Vor genau 20 Jahren verabschiedete der Europarat eine bemerkenswert deutliche Resolution: Dass so viele Krankenhauspatient:innen mangelernährt seien, bezeichnete er als derart „inakzeptabel“, dass europäische Staaten handeln müssten. Im selben Jahr, 2003, rekrutierte der Charité-Internist Matthias Pirlich Teilnehmer:innen für eine groß angelegte Untersuchung, um das Problem greifbar zu machen. Bei rund 1.900 Patient:innen an 13 Kliniken ließ er den Ernährungszustand prüfen, das Ergebnis veröffentlichte er 2006 in der German Hospital Malnutrition Study: Mehr als jeder Vierte (27,4 Prozent) wies Zeichen einer Mangelernährung auf. „Eine Zahl, die es so in Deutschland noch nicht gab“, sagt Pirlich. Lange hatten die
Schlechtes Essen in deutschen Krankenhäusern: Schwarze Zahlen statt roter Bete
Gesundheit Nährstoffe auf dem Teller? Deutsche Kliniken bieten das nicht. Dabei sind Obst und Gemüse bezahlbar und können die Therapie von Patienten enorm positiv beeinflussen. Wieso ist dem Management so etwas oft egal?

Hier gibt es Hoffnung – oben rechts sind immerhin Trauben zu erkennen
Foto: Sven Döring/laif
hatten die Kliniken allenfalls untergewichtige Menschen im Blick und übersahen, dass auch andere kritisch unterversorgt sind mit wichtigen Nährstoffen. Warum das kein Luxusproblem ist, haben Studien wieder und wieder belegt.Mangelernährte Patient:innen müssen länger im Krankenhaus bleiben, haben geringere Heilungschancen, verkraften Operationen schlechter und tragen ein größeres Risiko, zu sterben, als normal Ernährte. Aus der Krebsmedizin ist bekannt, dass bis zu 20 Prozent der Todesfälle nicht auf die Erkrankung, sondern auf die Folgen einer Mangelernährung zurückgehen.Heute, 20 Jahre später, ist Matthias Pirlich Facharzt in einer Berliner Praxis und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM). Gegen Mangelernährung im Krankenhaus kämpft er noch immer, das Problem ist dasselbe geblieben. Neuere Untersuchungen haben seine Daten bestätigt: Zwischen 20 und 30 Prozent der Menschen kommen mangelernährt in die Klinik, bei krebserkrankten und älteren Menschen sind es noch mehr. Mal ist der Mangel Folge einer Erkrankung, mal Ergebnis unausgewogener Ernährung. Doch obwohl bekannt ist, welchen Einfluss der Ernährungszustand auf den Krankheitsverlauf hat, steht er bei den meisten Kliniken nicht im Fokus. Wieso ist das so?Mit drei Euro abgespeistViele Häuser verzichten darauf, ihre Patient:innen auf Mangelernährung zu untersuchen, ganz zu schweigen davon, Ernährungstherapie zum festen Teil der Behandlung zu machen. Zu allem Übel gilt auch die Verpflegung in den Krankenhäusern selbst als mangelhaft. „30 Prozent des Essens wird nicht gegessen“, sagt Pirlich. In manchen deutschen Krankenhäusern könnten Patienten wochenlang liegen, nichts essen – und keiner würde es bemerken. Ein Großteil nimmt während des Aufenthalts ab.Auf Initiative der DGEM hat sich ein breites Bündnis zusammengetan, das die Probleme lösen möchte. Den Anlass gab die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geplante Klinikreform. Insgesamt 24 medizinische Fachgesellschaften – darunter die Gesellschaften für Innere Medizin und Geriatrie, die Deutsche Krebs- und die Diabetesgesellschaft – fordern den SPD-Politiker in ihrem Appell auf, nicht länger tatenlos zuzusehen. Erklärtes Ziel seiner Reform ist es, das wirtschaftliche Überleben von Krankenhäusern zu sichern und die Versorgung „modern“ und „bedarfsgerecht“ zu machen. Die Fachgesellschaften argumentieren, dass dabei die Ernährungstherapie nicht vergessen werden darf.Dabei berufen sie sich auf zahlreiche Studien, die mit erdrückender Evidenz inzwischen eines zeigen: Niemand muss die Folgen von Mangelernährung im Krankenhaus hinnehmen. International für Aufsehen sorgte vor allem die 2018 im Fachjournal The Lancet veröffentlichte EFFORT-Studie. Für den Versuch ließ ein Schweizer Forscherteam mehr als 1.000 mangelernährte Klinikpatient:innen mit unterschiedlichen Diagnosen zehn Tage lang ernährungstherapeutisch versorgen. Das ist keine Raketenwissenschaft: Die Proband:innen erhielten einfach eine individuell auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Verpflegung und eine fachkundige Ernährungsberatung. Nach einem Monat war ihr Risiko, in diesem Zeitraum zu sterben, mithilfe dieser kurzen Intervention bereits um 35 Prozent gesunken. Als Vergleich diente eine Kontrollgruppe, in der ebenfalls gut 1.000 mangelernährte Patient:innen mit vergleichbaren Diagnosen einfach die übliche Krankenhauskost erhielten.Es klingt unvorstellbar: Binnen weniger Tage ließen sich durch Ernährungstherapie „große Effekte“ erzielen, bilanziert Studienleiter Philipp Schütz: „Ob kranke Menschen jeden Tag 200 Kilokalorien und 30 Gramm Eiweiß mehr oder weniger essen, das summiert sich.“ Der Schweizer Endokrinologe und Professor an der Universität Basel ist sicher: „Wir könnten viele Todesfälle vermeiden.“ Doch die Realität an deutschen Krankenhäusern ist meist eine andere. Und das liegt keineswegs nur an dem ökonomischen Druck, dem sie ausgesetzt ist.2018 ermittelte das Deutsche Krankenhausinstitut, dass die Kliniken im Schnitt rund fünf Euro pro Tag und Person für Lebensmittel ausgaben. Preisbereinigt waren das 14 Prozent weniger als noch 2006. Aktuelle Zahlen sind öffentlich nicht bekannt. Von einzelnen Häusern sind auch Werte von 3,40 Euro zu hören. Die Stellen für Diätassistent:innen waren über Jahrzehnte hinweg tendenziell rückläufig. Multiprofessionelle Ernährungsteams, in denen sich Spezialist:innen aus Berufsfeldern wie Ernährungsmedizin, Ökotrophologie, Diätassistenz und Pflege um die Menschen kümmern, gibt es Schätzungen zufolge allenfalls an jeder zehnten Klinik – sie gelten als Goldstandard.„Man braucht einen Brandschutz- und einen Datenschutzbeauftragten, um ein Krankenhaus zu betreiben – aber niemanden, der sich mit der Ernährung auskennt“, beklagt DGEM-Präsident Pirlich. Die 24 Fachgesellschaften sehen deshalb die Politik in der Pflicht, Vorgaben zu machen. Die Kliniken müssten verpflichtet werden, Ernährungsteams einzurichten, bei der Aufnahme „routinemäßig“ Screenings auf Mangelernährung durchzuführen und bei Bedarf eine individuelle Ernährungstherapie samt bedarfsgerechter Verpflegung zu garantieren. Aber wieso hinkt Deutschland so weit hinterher, während in den Nachbarländern die Dinge schon deutlich besser laufen?In der Schweiz zum Beispiel: Dort gibt es, zumindest in den größeren Häusern, mittlerweile Ernährungsteams; ab 2024 sollen sich Spitäler mit Qualitätsverträgen zu Maßnahmen gegen Mangelernährung verpflichten. Das liegt auch daran, dass die maßgebliche Forschung zum Thema Mangelernährung in der Eidgenossenschaft gemacht wurde. Und auch in den Niederlanden sind routinemäßige Screenings weitgehend Standard.Früher entlassen werdenDennoch kann es an einem eigentlich kaum liegen, dass so was hierzulande noch ein Wunschtraum ist: am Geld. Als Wissenschaftler des Tufts Medical Center in Boston für ihren 2017 veröffentlichten NOURISH-Versuch vorwiegend ältere Patienten mit Lungenerkrankungen über 90 Tage hinweg ergänzend mit speziellen Trinknahrungen versorgten, errechneten sie dafür Kosten von 524 US-Dollar – pro gewonnenem Lebensjahr eines Patienten. „Ein lächerlich geringer Betrag im Vergleich zu anderen Interventionen, die wir uns gönnen“, sagt DGEM-Präsident Pirlich.Eine Kostenberechnung zur EFFORT-Studie ergab sogar, dass eine Klinik betriebswirtschaftlich von den nötigen Investitionen profitieren würde: Sie kann die Patient:innen mit weniger Komplikationen behandeln und früher wieder entlassen – diese Einsparungen überwogen die Kosten der Ernährungstherapie.„Die Konzepte liegen auf der Hand – es fehlt aber leider häufig die Einsicht nicht nur beim Klinikmanagement, sondern teilweise auch in der Ärzteschaft, dass es sich beim Management von Mangelernährung nicht nur um die Erfüllung einer Leitlinie handelt, sondern dass es einen deutlichen Benefit für den Patienten bedeutet“, vermutet Christian Sina, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. In einer Zeit, in der sechs von zehn Krankenhäuser mit roten Zahlen rechnen, lassen sich Investitionen zudem schwer vermitteln. Die wissenschaftlich zwar gut begründete, buchhalterisch aber schwer darzustellende Annahme, dass sie sich nach einiger Zeit bezahlt machen werden, scheint da zu vage. Umso stärker richtet sich der Blick der Ernährungsmedizin auf die Politik. Und zwar auch auf Cem Özdemir (Grüne). Dessen Bundesernährungsministerium (BMEL) leitet die Arbeit an einer ressortübergreifenden Ernährungsstrategie der Regierung und stößt einiges an, damit Essen gesünder wird. Bei Krankenhäusern aber fühlt sich Özdemir nicht zuständig.Bisher deutet in der Tat wenig darauf hin, dass die Ampelkoalition die Rufe erhört und auch die Teller von Patienten in den Fokus rückt. Zwar enthält der Koalitionsvertrag das Ziel, die Qualitätsstandards der DGEM in der Gemeinschaftsverpflegung zu „etablieren“. Doch einen Plan, wie das gelingen soll, ist Özdemir bislang schuldig geblieben. Das Gesundheitsministerium setzt noch einen drauf und sieht beim Krankenhausessen gar nicht erst politischen Handlungsbedarf: „Die Kliniken sind im Rahmen ihrer Organisationshoheit selbst für die Verpflegung im Krankenhaus verantwortlich“, teilt eine Sprecherin von Karl Lauterbach auf Nachfrage des Freitag mit. Vorgaben, um die Ernährungstherapie zu stärken, spielen in den bisherigen Überlegungen ebenfalls keine Rolle: „Die Bundesregierung plant nicht, verpflichtende Ernährungsteams in Kliniken vorzuschreiben“, heißt es aus dem Ministerium. Dabei gab es viele Ideen dazu, was sich gegen Mangelernährung im Krankenhaus tun ließe. Wieso werden diese nur niemals in die Tat umgesetzt?Bereits vor 20 Jahren, als der Europarat über das Thema beriet, gab es gute Vorschläge. Im Anhang seiner Resolution verabschiedete er, mit den Stimmen der damaligen deutschen Bundesregierung, eine lange Liste dringender Handlungsempfehlungen. Auch damals war schon die Rede von Ernährungsscreenings aller Patient:innen und Ernährungstherapie als Standardprogramm. Was aus diesem Katalog wurde, vermag das Bundesgesundheitsministerium heute nicht mehr zu sagen.