Wikipedia

A–Z Vor 20 Jahren wurde Wikipedia geboren – es sollte eine Plattform für alle werden. Mittlerweile existieren Einträge in 300 Sprachen. Unser Lexikon
Ausgabe 02/2021
Wikipedia

Foto: Ulrich Baumgartner/Getty Images

A

Aussprache Wer noch nie in eine Debatte über die korrekte Aussprache von „Tagliatelle“ verwickelt wurde, weiß nicht, wie demütigend es sein kann, wenn man die eigene Rechthaberei mit etwas so exotischem wie dem phonetischen Alphabet begründen muss. Die Polarisierung unserer Gesellschaft zeigt sich auch darin, dass es solche gibt, die mit Zeichen wie „ʎː“ etwas anfangen können, und solche, die das als Elitewissen abtun.

Die Wikipedia schafft Abhilfe: Immer öfter findet sich beim betreffenden Stichwort eine hinterlegte Audiodatei. Für „Wiki“ zum Beispiel gleich in zweifacher Ausfertigung, in US-amerikanischem und in australischem Englisch. Langjährige Streitfälle wie „Accessoire“ (mit „s“ oder „ks“?) werden hier entschieden. Für „Brokkoli“ (langes oder kurzes o?) muss sich noch jemand als Vorsprecher finden, aber für den Klassiker aller Bescheidwisserbeiträge, die „Worcestershiresauce“, gibt es hier eine demokratische, für alle nachhörbare Lösung. Barbara Schweizerhof

D

Dimension Bereits nach einem Jahr, also im Januar 2002, verzeichneten Jimmy Wales und Larry Sanger, die Gründer von Wikipedia (Sanger ist heute Ex-Gründer), 20.000 Einträge. Damit war klar: Sie hatten da etwas losgetreten, das bleiben würde. In Internet-typischem mega-exponentiellem Wachstum sind nun mehr als 58 Millionen Einträge in mehr als 300 Sprachen auf der Seite abrufbar. Darunter Esperanto, Waray-Waray und auch Latein. Monatlich kommen rund 250.000 Artikel dazu. Zwischen dreißig und vierzig Millionen Mal werden täglich Artikel aus diesem Meer an Informationen herausgefischt. Einen Weg, rein mündlich überliefertes Wissen zu vermitteln oder rein gesprochene Sprachen zu pflegen, hat Wikipedia jedoch noch nicht gefunden ( Leerstelle) oder ist womöglich gar nicht daran interessiert. Marc Ottiker

E

Etymologie Wiki ist nicht Norwegisch und hat auch nichts mit einem kleinen Wikinger zu tun. Eher auf der anderen Hemisphäre angesiedelt, sind die vier Buchstaben vom hawaiianischen Wort „Wikiwiki“ abgeleitet, was „schnell“ bedeutet. Als Jimmy Wales mit „Nupedia“ sein erstes Lexikonprojekt startete, war das noch ein schwerfälliger und kostspieliger Reinfall. Er wollte ein Online-Lexikon mit Einträgen von akademischen Koryphäen ihres Faches einrichten. Als Larry Sanger ihm das Open-Source-Schreibprogramm „Wiki“ zeigte, ein Programm, mit dem man schreiben und den Text per Enter-Taste in Realzeit veröffentlichen konnte, war Wikipedia geboren. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Projekt von den Nerds der Welt angenommen.

Dass das philippinische Idiom Cebuano hinter Englisch mit 5,3 Mio. Einträgen ( Dimension) an zweiter Stelle der häufigsten Beiträge im Wikipedia-Universum steht, geht auf einen schwedischen Nerd zurück, der 2006 einen Bot (also eine KI) baute, der unzählige Artikel in dieser Sprache, allein durch die Nennung von ein paar Stichworten, zu Artikeln zusammensetzte. Marc Ottiker

F

Finanzierung Nachdem Wikipedia-Nutzer*innen zum Jahresende vom traditionellen Spenden-Banner genervt wurden, dankt die Enzyklopädie: 8,7 Millionen Euro sind im Rahmen der Kampagne an die „Wikimedia Foundation“ geflossen, die hinter der Wikipedia und den anderen Wiki-Projekten steht. Das Vermögen belief sich 2019 auf 165,5 Millionen US-Dollar. 2009 waren es weniger als neun Millionen. Das Geld stammt größtenteils aus Spenden, von „normalen“ Förder*innen, aber auch aus Großspenden von Konzernen wie Google oder Amazon. Laut SZ von 2019 spendete Google damals insgesamt 7,5 Millionen Euro. Peanuts, wenn man bedenkt, was Wikipedia einnehmen könnte, wäre es kommerziell. Benjamin Knödler

H

Homerische Frage Hat Homer Ilias und Odyssee geschrieben? Wo und wann lebte er, gab es ihn überhaupt? Seine Epen gründen auf griechischen Heldengesängen, sind vielstimmig; Homer hat sie dann um 700 v. Chr. womöglich „nur“ verschriftlicht. Seine Identität ist ungeklärt. Ein bisschen wie beim Wikipedia-Kollektiv. Jeder darf mitmachen. Wer verfasst die Texte? Sind es Einzeltäter, Gruppen? Man weiß: Es gibt Spezialisten unter „Wikipedianern“, die nur über Osttimor schreiben. Frauen gibt es kaum, es kommen auch wenige dazu. Nur jeder zehnte Wikipedianer ist weiblich, nur 16 Prozent der biografischen Einträge behandeln Frauen. Was wäre Ilias ohne Helena? Maxi Leinkauf

I

Ich, wieviele? Ob man sich bei Wikipedia selber eintragen könne, fragte mich eine Autorin auf Instagram. Der Gedanke, seinen eigenen Eintrag bei Wikipedia zu wissen, ist nicht nur für Narzissten ein reizvoller. Doch wie bei vielen Dingen sieht es viel leichter aus, als es ist. Ist der Artikel veröffentlicht, muss man sich daran gewöhnen, dass an diesem Text viele Menschen mitschreiben ( Homerische Frage). Spannender als die Artikel sind die Versionsgeschichten. Bei „Bild“-Chef Julian Reichelt versuchen User, ihm wundersame Dinge zu attestieren. Ist Reichelt eine Knackwurst? Selbst wenn, es gehört nicht dahin. Dass dieses wunderbare Werk sich selbst schützt, ist den Ehrenamtlichen zu verdanken. Seit August „existiere“ ich auf Wikipedia. Beginnt damit erst meine künstlerische Existenz? Nein! Aber die liberalisierte Möglichkeit der Wissensbeschaffung ist ein Meilenstein für unsere Gesellschaft. Das ist die wahre Existenz! Jan C. Behmann

J

Jess Wade Okay, Wikipedia, wer ist Wade?“, lautete unsere Überschrift zu einem Guardian-Artikel, den wir vor gut zwei Jahren veröffentlichten. Es ging darin um eine junge Physikerin, die innerhalb von einem Jahr 270 Wikipedia-Seiten für Wissenschaftlerinnen einreichte, weil sie dort kaum eine ihrer Heldinnen fand. Die Dimension des Problems verdeutlicht sie gerne mit diesem Beispiel: Selbst Marie Curie habe sich in den Anfangstagen des Lexikons einen Eintrag mit ihrem Mann Pierre teilen müssen. Inzwischen hat auch Jess Wade eine eigene Wikipedia-Seite, die mit ihren 85 Fußnoten zitierfähig erscheint. Ihr zufolge hat die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Imperial College in London bis Februar 2020 mehr als 900 Wikipedia-Seiten verfasst und ihr Engagement auf Wissen-schaftler*innen of Color ausgeweitet. Seit 2019 trägt Jessica Alice Feinmann Wade den Titel BEM: Für ihre Verdienste hat ihr Queen Elizabeth die British Empire Medal verliehen. Christine Käppeler

K

Korrekturen „Du kannst den Fehler in Wikipedia ganz einfach selbst korrigieren!“ Was wie ein Aufruf zur einfachen Tat klingt, erweist sich in der Praxis als so zermürbend wie der Aufbau eines Ikea-Regals. Eigentlich kann man in einem Texteditor Änderungen an Wiki-Beiträgen vornehmen oder selbst einen erstellen. Noch eine Quellenangabe einfügen und fertig. Dachte ich vor zehn Jahren, als ich an Wiki mitarbeiten wollte. Ich vergaß den Faktor Mensch. Admins setzten meine Änderungen Löschdiskussionen aus, ein Verweis auf die Quellen reichte nicht aus. Die Wiki-eigenen Relevanzkritierien galten plötzlich nicht mehr. War das ein Mitmachprojekt des Wissens? Ich war raus, korrigiere nur noch Rechtschreibfehler. Tobias Prüwer

L

Leerstelle Wissen für und von allen verspricht Wikipedia. Erfüllt wird das nur bedingt, es existieren Leerstellen. Einerseits ist die Quellenauswahl sehr beschränkt, werden Zeitungen und Portale gern zitiert, die als bürgerlich und „Mitte“ gelten. Das schränkt die Perspektive ein, dass Online-Quellen bevorzugt werden ebenso. Zudem operiert Wiki nach einem westlichen Verständnis, das nicht allen Wissenskulturen gerecht wird. So finden orale Tradierungen, die in Teilen Afrikas eine wichtige Form der Überlieferung sind, keinen Eingang in die Enzyklopädie. Das ist doppelt problematisch, wenn das einzige schriftlich vorliegende Wissen von weißen Kolonialherren stammt. Dann reproduziert Wiki den rassistischen Blick. Da muss man technisch nachbessern und wirklich alle beteiligen. Tobias Prüwer

M

Minutiös Als Info-Junkie lässt man sich heute Eilmeldungen auf sein Smartphone „pushen“. Da ist dann häufiger auch mal eine Todesnachricht zu einer Person des öffentlichen Lebens dabei. Wenn man dann – um mehr über den oder die Verstorbene zu erfahren – bei der Online-Enzyklopädie nachschaut, ist im Eintrag zur Person das Sterbedatum bereits eingetragen. Wirklich immer. Ich habe das über eine längere Zeit beobachtet und stelle mir sehr ehrgeizige Wikipedia-Autoren vor (oder Autorinnen), die alles stehen und liegen lassen, um die Artikel sofort zu aktualisieren. Möglicherweise geht es sogar um zeitliche Rekorde, die sie immer aufs Neue brechen wollen? Kennt jemand die Streber? Elke Allenstein

R

Rabbit Hole Als Auslöser reicht manchmal ein Gespräch, ein Film oder einfach eine neugierige Frage. Ins virtuelle Kaninchenloch falle ich als Wikipedia-Poweruserin fast jeden Tag. Ehe ich mich versehe, bin ich von der Vendée Globe beim Voynich-Manuskript gelandet. Das Wikihole beschreibt einen Vorgang, bei dem die Nutzerin durch die Verlinkungen der Beiträge regelrecht durch die Enzyklopädie flaniert. Als wäre man allein gelassen in einem riesigen Archiv und darf wahllos alle Schubladen und Schränke öffnen, die irgendwie interessant aussehen. Diese Eigenheit der Plattform wird im sog. Wikiracing zu einem Spiel: Mit möglichst wenigen Klicks oder in Rekordzeit versuchen die Mitspieler/innen von einem festgelegten Startbeitrag zu einem Zielbeitrag zu gelangen. Eines meiner Lieblingsfundstücke ist der Beitrag über Mozartkugeln, wo ein besonders aufmerksamer Nutzer alle nennenswerten Markenprodukte für eine Grafik halbierte, um die Nougat-Marzipan-Relation zu veranschaulichen. Susann Massute

Z

Zitierfähig Wikipedia kann ein Einstieg sein, sich in einem bestimmten Bereich Wissen zu erschließen. Danach kann man weiterrecherchieren, Links folgen, sich aus verschiedenen Literaturangaben neue Quellen erschließen. Zitierfähig ist das Crowdsourcing-Projekt nicht. Weil jeder mitmachen kann, ist die Zuverlässigkeit nicht immer gewährleistet, auch wenn es Prüf- und Korrekturmechanismen gibt ( Korrekturen). Die Qualität der Einträge ist dermaßen divers, dass es in der Wissenschaft nicht nur verpönt, sondern gefährlich ist, sich auf Wiki zu verlassen. Die Autoren der Beiträge würden kaum über eine ausreichende akademische Qualifikation verfügen, die Sorgfalt werde vermisst. Das wird manchmal als kauziges professorales Abkanzlungsverhalten abgetan, hat aber seine Berechtigung. Sollten Journalist*innen es wagen, aus Wikipedia „abzuschreiben“: Addio! Tobias Prüwer

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