Wikiprint

Linksbündig Was wird im Online-Zeitalter aus der Enzyklopädie?

Vor zwei Monaten überraschte der Brockhaus-Verlag mit der Meldung, seine Enzyklopädie in Zukunft nicht mehr in gedruckter Form, sondern nurmehr im World Wide Web anzubieten. Während die einen etwas sentimental "Abschied vom Bildungsbürgermöbel" (taz) nahmen, frohlockten andere hämisch, dies sei der längst überfällige Beweis, dass die Zukunft des Wissens allein im Internet zu finden sei. Womöglich hat man beiBrockhaus geahnt, in welches Wespennest sich da stoßen ließ - wer heutzutage Print gegen Online (oder vice versa) in Stellung bringt, der kann ziemlich sicher sein, eine hitzige Debatte anzustoßen -, ein echter Coup ist dem Verlag jedenfalls gelungen. Die Nachfrage nach den 30 handfesten Bänden war dank der Nachricht von deren Ende derart gestiegen, dass der Verlag kaum acht Wochen später doch über eine 22. Auflage der Druckausgabe nachdachte. Dem Gutenberg-Revival noch nicht genug, gab kurze Zeit darauf der Bertelsmann-Konzern bekannt, eine Auswahl aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia ab Herbst in Buchform anzubieten. Phantomschmerzen einer digitalen Gesellschaft? Oder was sonst ist davon zu halten?

Dass die alphabetische Ordnung dem Enzyklopädischen nur schlecht gerecht wird, wussten schon Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d´Alembert, ihrer Encyclopédie (1751-72) stellten sie das Modell eines Baums als Abbild der Ordnung des Wissens voran, in der Vorrede notierte d´Alembert: "Bei der lexikalischen Zusammenfassung all dessen, was in die Bereiche der Wissenschaften, der Kunst und des Handwerks gehört, muss es darum gehen, deren gegenseitige Verflechtungen sichtbar zu machen und mithilfe dieser Querverbindungen die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien genauer zu erfassen". Wer das heute liest, denkt sofort an das Internet, an Links und eben an Wikipedia; das Netz - als Realität wie als Metapher - scheint für Wissensaufbereitung tatsächlich bestens geeignet. Solange es um die reine Information geht zumindest. Erinnert man sich an die zahlreichen Szenen der Weltliteratur, in denen der jugendliche Protagonist beim Blättern in Vaters Lexikon auf die Anatomie des weiblichen Körpers stößt, tritt ein Vorteil der Enzyklopädie als Sammelband zutage - denn zu einer solchen Erotisierung des Signifikanten kann Wikipedia wahrlich nicht beitragen. Anders gesagt: Im Brockhaus kann man finden, was man nicht sucht, denn derart disparat wie in der alphabetischen Ordnung kommt das Wissen nur selten nebeneinander zu stehen.

Geht es um andere, nüchternere Dinge wie Aktualität, Mobilität und Dynamik, ist die Wikipedia dem schwerfälligen Brockhaus natürlich haushoch überlegen, weil sie sich an die Zeiten, in denen man Wissen für ein fest abgestecktes Feld hielt, vermutlich gar nicht erst erinnern kann. Dass bei Wikipedia, dank der schier unerschöpflich anmutenden Serverkapazitäten, im Grunde alles hineinpasst, was der eine oder der andere als Wissen begreift, dehnt diesen Begriff manchmal bis zur Gefahr des Zerreißens. Um all das in Buchform zu bringen, bedient sich Bertelsmann eines populären Auswahlkriteriums: In seinem Wikipedia-Lexikon in einem Band werden die 50.000 am häufigsten gesuchten Stichworte aufgenommen. Dass es sich um ein Lexikon des Lexikons handelt, sagt der redundante Titel ja bereits. Um der schnellen Wandelbarkeit des Online-Formats beizukommen, begreift man die Publikation als Jahrbuch, und sollte sie ein Erfolg werden, wird alljährlich ein neues Exemplar erscheinen.

Das war schon bei der Encyclopédie so, nur folgte da "B - Cézimbra" auf "A - Azymites" und nicht 2009 auf 2008: Die Achsen, an denen entlang Wissen angeordnet wird, verlaufen heute sichtlich anders als einst. Deshalb wird man - sollte das Jahrbuch über einen längeren Zeitraum erscheinen - nach 20 Jahren nicht A bis Z beisammen haben, sondern eine Kulturgeschichte des Wissens. Das könnte spannend werden.

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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