Wikiprint

Im Freiwuchs beschnitten Das Online-Lexikon Wikipedia soll in 100 Bänden gedruckt werden

Die Welt der lexikalischen Nachschlagewerke ist durcheinander geraten. Seitdem die Online-Enzyklopädie Wikipedia sich binnen fünf Jahren zum respektablen Schauplatz für die schnelle Informationssuche gemausert hat, ist zunächst ein Raunen, dann ein Ruck durch die Branche gegangen. Der Leipziger Traditionsverlag Brockhaus sah sich etwa zu einer radikalen Modernisierung veranlasst. Die 21. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie ist nun auch digital erschienen, als Doppel-DVD mitsamt USB-Stick und Online-Support. Die Kosten belaufen sich auf 1.499 Euro.

Für den gleichen Preis soll jetzt eine hundertbändige Ausgabe der deutschsprachigen Wikipedia entstehen, WP 1.0 (Wikipedia-Print) genannt. Der Berliner Zenodot Verlag will ab Oktober monatlich zwei Bände zum Stückpreis von 14,90 Euro auf den Markt bringen. Nach fünfzig Monaten und dem 100. Band im Dezember 2010 hätte der Käufer dann 1.490 Euro beglichen. Spöttische Zungen empfehlen bereits eine Kooperation mit Ikea, um gleich ein Billy-Büchergestell für die vielen Regalmeter mitzuliefern.

Vor kurzem trafen sich Vertreter der Wikipedia-Community in den Verlagsräumen von Zenodot. Der Verlag hat bereits einige Wikipedia-CD-ROMs und eine DVD mit der deutschen Gesamtausgabe herausgebracht und seit Mai 2005 so genannte Wiki-Reader - Bücher zu Themen wie Fahrräder, Robben und Friedensnobelpreisträger. Verlagsleiter Ralf Szymanski erläuterte, dass 20.000 Subskribenten für die gedruckte Gesamtausgabe notwendig seien, "erst dann ist das Projekt wirtschaftlich". 25 Redakteure sollen dafür angestellt werden, ein wissenschaftlicher Beirat zusätzlich "sichtende Tätigkeiten" übernehmen.

Rigorose Befürworter auf Seiten Wikipedias finden sich vor allem auf Vereinsebene und in der Gruppe von Administratoren. Sie fühlen sich von der Idee, ihr digitales Projekt könne sich nun als Druckwerk materialisieren, gebauchpinselt. Eine fachliche Überarbeitung, die der Drucklegung vorausgehen müsste, wird als willkommene Qualitätssicherung betrachtet. Von der Community hingegen sind kritischere Töne zu vernehmen. In einem eigenen Online-Forum haben sich bislang nur fünf Stimmen positiv zum Vorhaben geäußert und das Erreichen neuer Zielgruppen und die Aufwertung von Wikipedia hervorgehoben. Demgegenüber stehen 33 ablehnende Haltungen. Die einen sehen die Aktualität und partizipatorische Grundidee konterkariert, andere äußern Zweifel an der praktischen Umsetzung. Wieder andere würden die eigene Selbstausbeutung nur im Rahmen eines nicht-kommerziellen Projekts betreiben wollen.

Problematisch erscheint vielen, dass der Verlag die Lemmata und deren Länge festlegen will. Insgesamt 500.000 Artikel werden angepeilt - weitaus mehr als die deutsche Wikipedia mit momentan 370.000 Einträgen umfasst. Und das würde selbst bei 800 Seiten pro Band noch eine enorme Kürzung der bisweilen uferlosen Textströme bedeuten. Auch die Tatsache, dass am Ende zwei Wikipedia-Versionen entstehen - eine "gewachsene" im Internet, und eine beschnittene auf Papier - sorgt für Verstimmung. Welche ist denn dann die richtige und gültige Fassung? Und könnte dies die Community am Ende nicht gar spalten?

Die eigentliche Pointe besteht indessen darin, dass die Wikipedianer selbst einen Großteil des Qualitätsmanagements nach den Vorgaben des Verlags erledigen sollen. "Unser Angebot basiert auf der Leistung der Community", stellte Ralf Szymanski fest. "Der Verlag ist nicht in der Lage, mehr als einen Rahmen zu bieten." Im Klartext bedeutet dies, dass die Wikipedianer zwei Bände à 800 Seiten pro Monat bearbeiten und in einen lexikontauglichen Sprachduktus verwandeln sollen, entlang des Alphabets. Der Kostenaufstellung des Verlags zu Folge verbleiben nur fünfzig Cent pro verkauften Band bei Wikipedia.

Nun muss man sich Wikipedianer indessen als altruistische Menschen vorstellen, die nächtens der Idee verfallen, ihr liebgewordenes Steckenpferd zu reiten und die Welt an ihrem Wissen teilhaben zu lassen. Ob sie willens oder in der Lage sind, pro Arbeitstag 80 druckfertige Seiten mit Fremdmaterial abzuliefern, darf auch hinsichtlich der langen Zeitspanne bis 2010 getrost bezweifelt werden. Dass Engagement seine Grenzen hat, lässt sich schon jetzt vorhersagen.


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