Die Verstaatlichung der Krise, die wir derzeit erleben, löst das Problem nicht, sondern verlagert es nur. Schon in der Vergangenheit war die reguläre Grundlage der Staatsfinanzen durch die Besteuerung der Einkommen aus realer Mehrwertproduktion brüchig. Im Schatten der Finanzblasen-Ökonomie wurde dann – reichlich blauäugig – eine Entschuldung des Staates ins Auge gefasst. Diese Option ist nach dem globalen Finanzcrash reine Makulatur. Die Finanzierung der Konjunkturpakete lässt die Staatsverschuldung beispiellos explodieren. Womit sich ein Dilemma andeutet: Die hemmungslose Geldschwemme der Notenbanken kann eine unaufhaltsame Inflation erzeugen. Wenn das vermieden werden soll, müssten die Steuern drastisch erhöht werden. Das aber würde erst recht jede Konjunktur abwürgen. Um das zu vermeiden, müssten umgekehrt die Steuern gesenkt werden.
Dass es sich um die Quadratur des Kreises handelt, zeigt das steuerpolitische Sommertheater in Deutschland. Während der Monate des Wahlkampfs überbietet man sich gegenseitig mit haltlosen Überlegungen und Versprechungen. Die FDP und der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU fordern drastische Steuersenkungen, deren Folgen für die Staatsfinanzen heruntergeredet werden. Der Staatsflügel der Union nennt das unseriös und verspricht Steuersenkungen „nach der Krise“, wann immer das sein soll. SPD und Grüne fabulieren über einen „sozialökologischen Umbau“ des Steuersystems, halten sich aber mit konkreten Konzepten bedeckt. Und die Linkspartei möchte ebenso vage und wahltaktisch „die Reichen zur Kasse bitten“, ohne die systemischen Krisenbedingungen beim Namen zu nennen.
Marsch durch das Tal der Tränen
Natürlich wird das Dilemma eine Verlaufsform nehmen, aber die kommt als dickes Ende erst nach der Wahl und ist absehbar. Dabei gilt eine alte Faustregel. Für die staatliche Steuerpolitik ist das Kapital kein wilder Tiger, sondern bekanntlich ein scheues Reh, das nicht erschreckt werden darf, weil es sonst das Weite sucht. Also labt sich der Fiskus lieber am Massenkonsum und an den Lohneinkommen. Die von allen Ländern der Welt am stärksten exportorientierte Bundesrepublik leistet sich bereits jetzt die höchste Besteuerung der unteren Einkommensgruppen in der EU. Dieser Sachverhalt geht einher mit einem überproportional großen Sektor von Billiglohn und Prekarisierung. Die Armutsquote ist nach Angaben des Paritätischen Gesamtverbands schon während der Defizitkonjunktur bis 2007 drastisch gestiegen und weist zugleich ein weiter auseinanderklaffendes regionales Gefälle zwischen zehn Prozent in Baden-Württemberg und 24 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern auf.
Die Hoffnung, dass die neue Staatsorientierung zu sozialen Verbesserungen führen wird, ist illusionär. Wenn nach der Wahl kein Legitimationsbedürfnis mehr besteht, dürfte sich der Notstands-Keynesianismus als Fortsetzung der neoliberalen Politik mit anderen Mitteln entpuppen. Eine Steuersenkung bei Unternehmensgewinnen und oberen Einkommensgruppen durch eine schwarz-gelbe Koalition (vielleicht kaschiert durch „familienpolitische“ Trostpflaster auch bei geringen Einkommen) könnte das Finanzdilemma nur verschärfen. Denn angesichts von Überkapazitäten wird die Steuerersparnis bei den Unternehmen nicht in Investitionen fließen und bei den Banken nicht in verbilligte Kredite, weil die nach wie vor auf maroden Bilanzen sitzen. Die Hoffnung, dass auf diese Weise der Konjunkturmotor wieder anspringt und sich das Finanzierungsproblem in Wohlgefallen auflöst, ist ziemlich eitel. Umgekehrt wird es eine von der SPD geführte Koalition nicht wagen, angesichts der Exportprobleme die Steuerschraube für die Industrie- und Finanzkonzerne anzuziehen, also das scheue Reh in die Flucht zu treiben. Im Namen der Krisenbewältigung ist stattdessen nach der Wahl zu erwarten, dass die Propaganda zum „Marsch durch das Tal der Tränen“ bläst.
Die nächste Regierung – egal, wie sie zusammengesetzt ist – muss den sozialen Bluthund machen. Was zur Disposition steht, sind die Reste der öffentlichen Daseinsvorsorge, die man als – bedauerlicherweise – „unfinanzierbar“ hinstellen wird. Wenn man einem Nackten nicht mehr in die Tasche fassen kann, dann geht es eben an die Haut und ans Fleisch. Die Optionen der Notstandspolitik reichen von einer nochmaligen Erhöhung der Mehrwertsteuer und einer Rentenkürzung über die Absenkung des Arbeitslosengeldes und der Hartz-IV-Bezüge bis zur Verteuerung aller staatlichen Gebühren, der Kürzung der Bildungsetats und einer verschärften medizinischen Rationierung. Auch eine weitere Ausdünnung anderer öffentlicher Infrastrukturen, oder Gehaltskürzungen und Entlassungen im öffentlichen Dienst sind denkbar. Ein solcher Maßnahmenkatalog, über den bis zum Herbst nicht laut gesprochen werden darf, kann zwar die Rettungspakete nicht finanzieren und die schwelende Krise der Staatsfinanzen nicht lösen. Aber im Zeichen der „Verantwortung für den Kapitalismus“ ist das die wahrscheinlichste Verlaufsform für das steuer- und finanzpolitische Dilemma. Dass Kapitalismus der Reichtum ist, der Armut schafft, darf zugegeben werden, gerade wenn er allgemein als Naturbedingung und unvermeidliches Verhängnis erlebt wird.
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