Der 18-jährige Mike P. wurde erschossen, weil Helmut Kohl den Anschluss der DDR überstürzte. Der Zusammenhang ist eindeutig: Wenn es die DDR noch gäbe, würde DDR-Recht in ihr gelten und nach dem hätte die Leipziger Polizei sich aus normalen Polizeieinheiten plus Wehrpflichtigen zusammengesetzt. Sie wäre also nicht in die Lage gekommen, mit höchsten 219 Mann von 400 Hooligans umzingelt zu sein und alle Leipziger Polizeikräfte dabei ausgeschöpft zu haben. Das Bundesrecht verbietet es aber, dass Angehörige der Bundeswehr Polizeifunktionen übernehmen. Wie man zwei Polizeiverfassungen so zusammenmischt, dass die Mischung noch schlimmer wird als jede Komponente einzeln, hat nun die geschwinde Aushandlung des Staatsvertrages gelehrt. Jetzt ist es so, dass die ostdeutsche Bevölkerung einerseits mit den Folgen politisch geplanter Massenarbeitslosigkeit konfrontiert ist, die aggressiv macht, und andererseits mit einer zusammengeschrumpften, wehrlosen Ordnungsmacht. Die alte Ordnungsmacht hat alle Aggressionen außer den eigenen unterdrückt, die neue findet sich in der Rolle der Helden aus Wildwestfilm-Szenarien wieder. Und auch die gewöhnlichen Bürger finden sich dort wieder. Jetzt müssen Ladenbesitzer, wenn Sportwettkämpfe anstehen, als Privatpolizei sich selbst vor Einbrechern schützen, und die ziellose Wut der Hooligans stößt nicht auf normale Varianten polizeilicher Unterdrückung, nicht auf ordinäre Polizeitaktik oder -psychologie, denn dazu fehlen die Kräfte, sondern sie werden notfalls erschossen.
Der Fall der Erschießung von Mike P. scheint ein Notfall des Leipziger Polizeifähnleins gewesen zu sein. Aber wir wollen hinzufügen, die Wut der mit Steinen und Eisenstangen kämpfenden Hooligans war ihrerseits nicht ebenso grundlos, wie sie ziel- und rechtlos war. Als vor zehn Jahren in Liverpool die Welle des englischen Fußballrowdytums losbrach, wackelten alle westdeutschen Sozialpolitiker mit den Köpfen und machten Thatchers Wirtschaftspolitik verantwortlich. Damals Thatcher, heute Kohl. Auch dass die sächsische Polizei keine Verstärkung aus westlichen Bundesländern anfordern konnte, ist Folge seiner Sturzpolitik. Denn nicht einmal zwischen Wahlen in den ostdeutschen Ländern und „Beitritt“ der DDR wurde Zeit eingeräumt, und daher konnte bis heute, zwei Wochen nach Zusammentritt des Landesparlaments, noch kein sächsisches Innenministerium gebildet sein, das zur Anforderung außersächsischer Polizeikräfte befugt wäre; Bundesrecht gilt seit fünf Wochen. Kohls Geschwindigkeitsrausch hat gleichwohl seine guten Seiten, nämlich für ihn selbst: „Deutschland“ ist erreicht, damit kann er die Bundestagswahl gewinnen.
Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.