Wie viele Zumutungen verträgt die parlamentarische Demokratie, bis man sich um ihre Verfasstheit ernsthaft Sorgen machen und sie ins Lazarett schicken muss? Unbestritten dürfte sein, Demokratie im Kapitalismus braucht ein robustes Mandat, wenn sie mit der Macht im Staat mehr vorhat, als nur davon zu kosten. In ihrer bundesdeutschen Spielart wird ihre Echtheit zuweilen auf die Probe gestellt. Die Freiheit des anders Wählenden etwa ist ein kostbares, aber verzichtbares Gut. Wer falsch wählt, kann sich darauf verlassen, danach von den Richtigen regiert zu werden.
Auch sind deren Disziplinierungskeulen oft von schlagender Wucht. Der letzte SPD-Kanzler hatte eine zur Hand, als er per gezinkter Vertrauensfrage Amt gegen Neuwahlen tauschte. Oder der aktuelle Bundestagspräs
spräsident, als Trauer im Plenum über Opfer eines deutschen Luftangriffs in Afghanistan an der Hausordnung zerschellte. Es ist erstaunlich viel, was die parlamentarische Demokratie verkraftet. Lächerlich und überflüssig macht sie sich, wenn ihr die Freiheit der Entscheidung abhanden kommt und Kapitulation vor einem tobsüchtigen Finanzmarkt zur Ultima Ratio wird. Dann bleibt von ihr nichts als eine teure, hübsch herausgeputzte Puppe.Staats- und MarkträsonAls vor Tagen das Milliarden-Care-Paket für Griechenland im Schweinsgalopp durch Bundestag und Bundesrat getrieben wurde, schlug eine Sternstunde demokratischer Selbstaufgabe, illuminiert durch ein informelles Jamaika-Bündnis, das seinen Segen nicht schuldig blieb. Das grüne Empfehlungsschreiben an Schwarz-Gelb kurz vor der NRW-Wahl hatte den Charme des Hybriden und schien auf die Botschaft bedacht, Staatsräson einer Mittelstandspartei schließt auch strikte Markträson ein.Wie sich zeigt, wird die im Bundestag ansässige Demokratie von den Finanzmärkten nicht nur kontrolliert, sondern erpresst. Wer meint, es lag an diesem sehr speziellen Fall, der keine Alternative erlaubte, weil mit der Rettung Griechenlands doch tatsächlich der Euro zu retten war, der sagt auch, es gab keine Alternative zur Erpressung durch Spekulanten, Rating-Agenturen, Kreditausfallversicherer und deutsche Großbanken, die zu den Hauptgläubigern Griechenlands zählen.Doch es gab sie. Man konnte danach greifen, als der Bundestag am 15. Oktober 2008 zum 480-Milliarden-Euro-Rettungsschirm gehört wurde, den das damals noch schwarz-rote Kabinett Merkel nach dem Crash von Lehman Brothers über die deutsche Bankenwelt gespannt hatte. Kein Moment konnte günstiger sein, um ein Primat der Politik über die Finanzmärkte durchsetzen zu können. Nichts dergleichen geschah. Weder wollte eine Mehrheit der Volksvertreter Rating-Agenturen öffentlicher Aufsicht unterstellen noch Hedgefonds verbieten noch über eine Steuer auf Finanztransaktionen nachdenken, geschweige denn eine Bankenabgabe beschließen, um verstaatlichte, auf den Bürger abgewälzte Bankenverluste irgendwann zu reprivatisieren. Der Austausch von Vernunft gegen Marktanarchie, von Volksvertretung gegen Lobbyismus – von Demokratie gegen Ideologie fand nicht statt. Die Folgen dürfen besichtigt werden. Im Jahr drei der Weltfinanzkrise sind die Nationalstaaten ausgelaugt, weil auf Jahrzehnte hoch verschuldet. Den Bankensektor aus dem Abgrund zu bergen, hat letzte Reserven verbraucht – der 750-Milliarden-Rettungsschirm für den Euro vermutlich die allerletzten. In ihrer Mehrheit sind viele EU-Länder kaum solventer als Griechenland. Die Demokratie im Kapitalismus – dieses ohnehin schwer einlösbare Versprechen – verliert mit einem bankrotten Staat, was einem Unternehmen der Kapitalstock ist. Sie verliert den Vollstrecker ihres Willens. Wer unter diesen Umständen Demokrat bleiben will – hat der nicht jedes Recht der Welt, solcher Schwindsucht und Nötigung den Rücken zu kehren? Ist Abkehr keine Frage des Anstands, wenn politisches Personal demokratische Notstände munter auskostet?Schaumkronen des PopulismusAls Kanzlerin Merkel in Verkennung der Lage Ende April eine Woche lang meinte, sie dürfe bei der Griechenland-Hilfe auf Zeit spielen, schien es fast so, als sei ihr damit ein Kaninchen in den Zylinder gesprungen, das sich vor einem ob des Athener Schlendrians aufgescheuchten Publikum hervorzaubern ließ. Die Maßregelung der Griechen sollte die „Eiserne Lady“ im Meinungsstrom nach oben treiben „Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, der schnell hilft“, teilte sie mit. Wer es anders hielt, war freilich kein schlechter Europäer. Eher einer, der sich im Unterschied zur deutschen Regierungschefin keinen Kurzurlaub von der Finanzwelt des 21. Jahrhunderts gönnte, um die NRW-Wahl zu gewinnen. Und vielleicht nichts hielt von den Schaumkronen des Populismus. Will man wirklich erleben, wie sie sich erneut ballen, wenn alsbald die Spanier die Griechen sind? Brauchen wir die Schlagzeile des Boulevards: Verkauft uns Mallorca! Wir brauchen nicht einmal den Ekel darüber. Was soll sein?Wenn sich diese parlamentarische Demokratie weiter berufen fühlt, Banken, Staaten und Wirtschaftssysteme zu retten, nicht aber Gesittung, Gerechtigkeit und das ihr anvertraute Volk, wird es höchste Zeit, sie vor sich selbst zu retten.