Frage an Radio Jerewan: Was trennt den amerikanischen Politologen Daniel Goldhagen und die Hamburger Soziologin Necla Kelek? Im Prinzip wenig außer dem Atlantik und der Sprache. Beide haben mit Büchern zu strittigen Themen in Deutschland nationale Debatten angeregt. Beide bedienen virtuos die mediale Öffentlichkeit und werden vom Publikum dafür geliebt. Beiden schlägt als Außenseitern ihrer Zunft die kalte Kritik der etablierten Wissenschaft entgegen. Beide werden ob ihrer einseitigen Quellenauswahl und einer zugespitzten, oft polemischen Interpretation kritisiert.
Anders als Goldhagen im Jahr 1996 liefert Kelek zehn Jahre später allerdings keinen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust, sondern mit den Defiziten der deutschen Einwanderungsgesells
ngsgesellschaft. Den Auftakt bildete ihr Buch aus dem letzten Jahr Die verkaufte Braut, in dem sie sich mit dem Thema von arrangierten Ehen beziehungsweise Zwangsheiraten unter türkisch-muslimischen Einwanderern in Deutschland auseinander setzte. Dieses Buch begründete Keleks Ruf als unerbittliche Kritikerin von Missständen im Einwanderungsland Deutschland im Allgemeinen und unter türkischstämmigen Migranten im Besonderen.Kelek, die selbst 1968 als zehnjährige Tochter von "Gastarbeitern" aus der Türkei in die Bundesrepublik einwanderte, ließ nun ein zweites Buch folgen, das die Öffentlichkeit radikal mit dem Scheitern junger türkischer Männer in Deutschland konfrontiert. Die verlorenen Söhne basiert wiederum auf Interviews mit Betroffenen und den eigenen biografischen und familiären Erfahrungen der Autorin, die sich im Konflikt von ihrer Familie und großen Teilen der türkischen Community in Deutschland losgesagt hat. Das Feld für die erfolgreiche Veröffentlichung und Vermarktung des Buches hätte nicht besser bestellt sein können. Die deutsche Gesellschaft diskutiert auf allen Kanälen ihre Integrationspolitik, und die Autorin selbst ist zum Ziel einer Kontroverse um ihre eigene Person und Arbeit geworden.In einem in der Zeit veröffentlichten offenen Brief mit dem emphatischen Titel Gerechtigkeit für die Muslime! kritisierten 60 Migrationsforscher Anfang Februar die Arbeit Keleks als unwissenschaftlich und unseriös. Protagonisten des offenen Briefs waren die Bremer Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakasoglu und der Kölner Publizist Mark Terkessides. Zu den Unterzeichnern gehörten etwa die früheren Ausländerbeauftragten Barbara John (Berlin) und Ursula Neumann (Hamburg), der Politologe Dietrich Thränhardt (Universität Münster) sowie die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Boos-Nünning (Universität Duisburg-Essen). Der konfrontative, etwas ungelenke und im beleidigten Ton verfasste Brief bewirkte zahlreiche, teils heftige Gegenreaktionen, nicht zuletzt durch die Kritisierte selbst. Ein Teil der Presse sprang Kelek bei und veröffentlichte ebenso streitbare und polemische Antworten. Unter ihren Verteidigern befand sich auch die mittlerweile im bundesdeutschen Mainstream angekommene Alice Schwarzer, die in der FAZ ad personam eine rüde Attacke gegen die 60 "vorgeblichen Migrationsforscher" ritt.Der - man weiß nicht, ob fruchtbare oder unsinnige, jedenfalls quer zum traditionellen Links-Rechts-Schema liegende - Streit ist für Außenstehende nicht leicht zu durchblicken. Vordergründig geht es um die Richtung und das Ziel der Integrationspolitik in Deutschland. Darunter gibt es einen Subtext, der einen eher wissenschaftsinternen Kern hat. Dabei geht es um die Frage, wer die Deutungshoheit über das Thema genießt, welche Forschungsfragen gestellt und beantwortet werden und nicht zuletzt, wer an die Fleischtöpfe öffentlicher Fördergelder kommt, aus denen sich ein Großteil der deutschen Migrations- und Integrationsforschung speist.Die Kritik an Kelek lautet wie schon bei der Publikation ihres ersten öffentlichkeitswirksamen Buches, dass ihre Arbeit dem wissenschaftlichen Standard nicht genüge. Als drama queen der Integrationsdebatte neige sie dazu, einzelne Aspekte des Scheiterns von Integration stark zu überzeichnen. Die Kritik der Kritik wiederum weist darauf hin, dass sich die bundesdeutsche Migrations- und Integrationsforschung von ihren Anfängen in den siebziger Jahren bis in die Gegenwart in einem selbst gewählten, oft linksliberal geprägten Getto eingerichtet habe. Dadurch seien bestimmte Probleme ausgeblendet und unliebsame Tatsachen kollektiv beschwiegen worden.Die Migrationsforschung war und ist in Deutschland bis heute nicht als eigenständige Disziplin institutionalisiert. Sie wird durch einzelne Akteure geprägt, die eine Anbindung - und damit oft ein anders ausgerichtetes inhaltliches Profil - an übergeordnete Disziplinen (Soziologie, Ethnologie, Wirtschaftswissenschaften, Geschichtswissenschaft usw.) haben. Aus dieser institutionell schwachen Position heraus führte die Migrationsforschung über lange Zeit einen Abwehrkampf gegen die Mehrheit der Gesellschaft und der politischen Klasse. Genauer: Gegen die aller sozialer Wirklichkeit zum Trotz vertretene Auffassung, Deutschland sei kein Einwanderungsland (lies: wolle keines sein). Der Forschung aber lag an der wissenschaftlichen Begleitung einer rationalen Migrations- und Integrationspolitik. Also legte sie ihren oft auch mit politischem Impetus versehenen Schwerpunkt verstärkt auf Fragen der Normalität und Gestaltbarkeit von Migration sowie der Machbarkeit und Chancen von Integration. Die Probleme des Innenlebens der Einwanderer-Communities und das partielle Scheitern der Integration, Keleks Themen, standen weniger im Zentrum dieser Arbeiten. Es ist bezeichnend, dass dieses Muster zu jenem Zeitpunkt aufbrach, als Deutschland sich mit einem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz und dem Zuwanderungsgesetz offensiv und offiziell zu der Tatsache bekannte, Zuwanderungsland zu sein. Der politische und gesellschaftliche Schwenk ermöglicht heute eine offenere wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Probleme der Migration. Dies zeigt sich etwa durch die kritische Diskussion über die Existenz von Parallelgesellschaften, durch die Thematisierung der die Integration hemmenden sozialen Muster sowie den Blick auf Erfahrungen innerfamiliärer Gewalt und der Unterdrückung von Frauen in eingewanderten, meist muslimischen Familien.Was ist nun dran am Streit, wenn man einen vergleichenden Blick auf diese Forschungen und die Arbeiten von Necla Kelek wirft. Frau Kelek trifft mit ihrem Vorwurf, dass es über lange Zeit kaum substanzielle Forschungen zu Themen wie Zwangsheirat, Ehrenmorde oder die stark patriarchalisch geprägten Strukturen unter den Deutsch-Türken gab, einen wunden Punkt. Hier kann man in der Tat ein Versäumnis der etablierten Forschung und der gesamtgesellschaftlichen Integrationsdebatte sehen. Hier herrscht zurzeit Nachholbedarf für die deutsche Gesellschaft, den neben Kelek auch eine Autorin wie Seyran Ates mit ihren dramatisierenden - Kritiker würden behaupten: populistischen - Arbeiten befriedigt. Kelek ist also das Verdienst zuzuschreiben, die Migrations- und Integrationsdebatte mit ihren Arbeiten erweitert zu haben. Sie selbst bezeichnet das als notwendige Überwindung lang anhaltender Tabus. Der große öffentliche Zuspruch, den die Autorin erhält, lässt vermuten, dass sie ausspricht, was viele in ihrer Ungeduld schon lange sagen wollten: "Die Einwanderer-Communities sind an ihrer Misere überwiegend selbst schuld". Vor dem Hintergrund des individuellen Erfolgs und der Biografie von Kelek erhält diese Kritik dann ihre Legitimation.Nicht von der Hand weisen lässt sich, dass die populärwissenschaftlichen Arbeiten Keleks wissenschaftlichen Ansprüchen nicht standhalten. Das Vorgänger-Buch Die fremde Braut befremdete dadurch, dass die Autorin anhand des für ihre Dissertation ausgewerteten Materials zu anderen, teils entgegengesetzten Ergebnissen kam als zuvor in der wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit. Ob Keleks jüngere Arbeiten von normativen Vorgaben und von der unzulässigen Generalisierung eigener Erfahrungen durchdrungen werden, ist also eine durchaus legitime Frage, auf der die Schärfe der Kritik beruht. So kommt die Autorin etwa auf der Grundlage von fünf Interviews mit straffälligen und strafgefangenen deutsch-türkischen und muslimischen Männern zu ihren Ergebnissen. Hieraus und aus eigenen Alltagserfahrungen und -beobachtungen leitet sie dann immer wieder zugespitzte und verallgemeinerte Aussagen über die türkischen Jungen und Männer in Deutschland und in der Türkei ab. Wie sähe wohl das Bild der deutschen Gesellschaft aus, nähme man als Basis einer Untersuchung die Lebensgeschichten einiger straffälliger deutscher Männer und träfe dann weit reichende Aussagen über die gesamte deutsche Gesellschaft oder auch nur ihren männlichen Teil? Dem mit reformatorischem Eifer geschriebenen Text Keleks liegt nicht vorwiegend an differenzierten Analysen und Erklärungen oder auch nur an vertieftem Verstehen, auch wenn die Autorin sich selbst in die Tradition der qualitativen Sozialforschung stellt. Sie beansprucht in der Einleitung des Buches, dass sie so "anhand ausgewählter Beispiele die grundlegenden Merkmale der türkisch-muslimischen Männerrolle" herausarbeiten könne. Dies gelingt nicht.Über die Frage, ob der vorgebrachte Vorwurf einseitiger Skandalisierung gerechtfertigt ist, mag man streiten. Jörg Lau von der Zeit charakterisierte das Buch als Mischung aus "Streitschrift, Ethnografie und Bildungsroman". Als Streitschrift hat das Buch bereits sein Ziel erreicht. Als Ethnografie genügt es methodisch und inhaltlich den etablierten Standards nicht, da es zu deskriptiv, stark durch die reine Wiedergabe der erhobenen Erzählungen und eine politisch-polemische Sicht der Dinge geprägt ist. Und als Bildungsroman, ein großer Anspruch, steht es weder in der aufklärerischen Tradition der deutschen Klassik noch in der unterhaltenden Thomas Manns.Für die wissenschaftliche Erkenntnis bringt das Buch keinen sonderlichen Fortschritt, auch wenn es verdienstvoll von Kelek ist, auf ungestellte und damit auch unbeantwortete Fragen in der Migrationsforschung hingewiesen zu haben. Bedauerlich ist aber, dass die Arbeiten Keleks den ohnehin bestehenden Eindruck verfestigen, bei der Ausgestaltung der deutschen Einwanderungsgesellschaft handele es sich vorwiegend um ein "Türkenproblem" oder in erster Linie gar um ein Problem mit den männlichen Türken. Diese Anatolisierung der Integrationsdebatte wird der Vielfalt des Themas und den anstehenden Herausforderungen nur unzureichend gerecht. Im Kontext der teils hysterischen Islamophobie im Westen seit dem 11. September 2001 erweist Kelek mit ihrer neuen Polemik darüber hinaus einem gelassenen Umgang mit den diffizilen Fragen der Integration von (muslimischen) Zuwanderern keinen großen Dienst. Es steht hier ganz in der Tradition der bundesdeutschen Debattenkultur, Aufgeregtheit zu verbreiten, wo Besonnenheit gefragt wäre. Insofern ist das Buch ein untrügliches Zeichen für die überaus gelungene Integration der Autorin in die deutsche Gesellschaft: Willkommen in der Heimat!Rainer Ohliger, Historiker und Sozialwissenschaftler, ist Vorstandsmitglied des Netzwerks Migration in Europa e.V. Zuletzt erschien von ihm im Klartext-Verlag: Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik.
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