Udo Jürgens trägt einen feinen Anzug. Professionell wie immer wartet er, bis er die Bühne des Hamburger Operettenhauses betreten soll. „Ich lebe im Hier und Jetzt, im Heute“, sagt er. Dann geht er hoch, wo das Pepe-Lienhard-Orchester wartet, das ihn seit 27 Jahren begleitet. Das ZDF probt für die Geburtstagsgala, die an seinem Geburtstag ausgestrahlt werden soll. Eine „Kultnacht“ folgt.
Das alles hat sich Udo Jürgens hart erarbeitet. 75 Jahre alt wird der österreichische Sänger am 30. September, seit 1950 steht er auf der Bühne. Fast 1.000 Lieder hat er in der Zeit komponiert. Von 5.000 Tonträgern, die er produziert hat, wurden weltweit über 100 Millionen Exemplare verkauft. Und jetzt die Gala. Dabei mag Udo Jürgens eigentlich keine Rückblicke.
Erfolgreich war der Musiker schon früh: 1960 komponierte er Reach for the Stars, das Shirley Bassey zum Welthit machte. Er schrieb für Frank Sinatra das Lied If I never sing another Song, das dieser an Sammy Davis Jr. abtrat – der beendete fortan jedes seiner Konzerte mit dem Lied. Und 1966, im dritten Anlauf, gewann Udo Jürgens mit Merci Chérie den Grandprix Eurovision de la Chanson für Österreich.
Ende der sechziger Jahre nahm Jürgens einen Imagewechsel vor. „Ich wollte den deutschen Schlager mit guten Texten etablieren“, sagt er. Das glaubte nicht jeder, die SZ nannte ihn „Märchentante des Kapitalismus“. Als Strippenzieher des Wechsels zum politischen Künstler gilt sein damaliger Manager Hans R. Beierlein. Der schickte Jürgens 1969 zum Sommerfest des Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger – der erste Auftritt eines bekannten Künstlers in diesem Rahmen. Ein Jahr später sang Jürgens wieder beim Kanzler, bei Willy Brandt. Höhepunkt der Verwandlung des Schlagersängers in einen Gesellschaftskritiker war Lieb Vaterland: „Konzerne dürfen maßlos sich entfalten/im Dunkeln steh’n die Schwachen und die Alten“, hieß es zur Melodie der Wacht am Rhein.
Die Lieder von Udo Jürgens waren vielleicht nicht differenziert, aber sie bearbeiteten die großen Themen der damaligen Zeit. Die politische Annäherung an die Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges begleitete er mit Songs wie Anuschka (1969) und Babuschkin (1973): „Doch ich frag’ mich voller Wut:/Wozu ist das Schießen gut?“. 1968 legte er das Stück Tausend Fenster vor, musikalischer Ausdruck der „Unwirtlichkeit der Städte“, die Alexander Mitscherlich 1965 beschrieben hatte: „Viele tausend Fenster/sagen stumm: Hier lebt noch wer,/grad’ wie du so einsam und allein.“
Mit dieser halbkritischen Pose gelangen Jürgens seine größten Erfolge: 1974 Griechischer Wein, sein erster und bislang einziger Nummer-eins-Hit in Deutschland, der die Zerrissenheit von Arbeitsmigranten besingt: „Sie sagten sich immer wieder: Irgendwann geht es zurück/Und das Ersparte genügt zu Hause für ein kleines Glück/Und bald denkt keiner mehr daran, wie es hier war“. 1975 dann Ein ehrenwertes Haus, ein Anti-Spießer-Lied, in dem Jürgens die Doppelmoral der Gesellschaft gegenüber so genannten Ehen ohne Trauschein beklagte. „Eine messerscharfe Analyse jener Zeit“, sagt Hans-Dietrich Genscher, der damalige Außenminister und gute Freund.
So war Udo Jürgens zum Sänger des sozialliberalen Deutschlands geworden, Willy Brandt am gläsernen Flügel. Schaut man sich die Geschichte des Udo Jürgens alias Udo Jürgen Bockelmann an, ist das nicht so überraschend. „Wenn es eine Familie gibt, über die man nach den Buddenbrooks noch etwas erzählen kann, dann ist es wirklich diese Familie von mir“, sagte Jürgens, als er 2004 den Roman Der Mann mit dem Fagott vorstellte. Das Buch geht über seine Familie: über Heinrich Bockelmann, Udos Großvater, der als Straßenmusiker in Bremen um die Jahrhundertwende nach Russland auswanderte, Bankier wurde und das Vermögen der Zarenfamilie verwaltete. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs fällt Bockelmann in Ungnade und flüchtet nach Schweden. Aus dem Exil heraus finanziert er die Bolschewiki-Zeitung Nowaja Shisn – mit dem Chefredakteur Lenin.
Ein Lenin wurde Bockelmanns Enkel nicht. Sein bis zum heutigen Tag größter Verkaufserfolg gelang Jürgens 1978: Buenos Dias Argentina, gemeinsam mit der deutschen Fußballnationalelf vor der WM aufgenommen, die zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur stattfand. Das Lied schadete seinem Image nicht. 1982 reihte Jürgens sich mit Fünf Minuten vor zwölf – einem, wie er sagt, vom Attentat auf den ägyptischen Staatspräsidenten und Friedensnobelpreisträger Anwar al-Sadat motivierten Song – in die deutsche Friedensbewegung ein. Er konnte singen, was er wollte – er wurde geliebt. Vor allem von den Frauen.
1988 veröffentlichte Jürgens Gehet hin und vermehret euch, was als Anti-Papst-Lied wahrgenommen wurde. Der Bayerische Rundfunk weigerte sich, den Song zu spielen, der vom Verbot der Empfängnisverhütung handelte und von der Bevölkerungsexplosion. Den Prolog seines Liedes ließ er von Hanns Joachim Friedrichs sprechen: „Wer die Umwelt schützen will/der muss die Welt bewahren:/Fünf Milliarden sind genug!“ Auch Jürgens, der selbst Vater von vier Kindern ist und offen zu seiner Untreue steht, kann nur vor weiteren Menschenkindern warnen: „Und der Schöpfer wird zum Vernichter/wenn er so weiter macht.“
Jürgens’ Hang zu apokalyptischen Vorstellungen findet sich immer wieder, auch bei seinen insgesamt fünf Auftritten in der DDR. Bei der Tour 1987 sang er das Lied Atlantis sind wir, eine wüste Anklage der ökologischen Bedrohung. Vor lauter Weltuntergangsmetaphorik fiel kaum jemanden auf, dass darin auch der „Riss durch Berlin“ vorkam. Am 9. November 1989 gab Jürgens am Abend in Westberlin ein Konzert und fuhr anschließend naturgemäß sofort zur Mauer, um bei dem historischen Augenblick dabei zu sein.
Heute, da Karrieren, die Ende der sechziger Jahre begannen, resümiert werden, sagt Reinhard Mey: „Ohne Udo Jürgens wäre die deutsche Liedermacherära nicht entstanden“. Die FAZ schrieb 2006: „Er ist Deutschland.“ Das stimmt wohl, auch wenn Jürgens seit 2007 neben der österreichischen auch die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzt. Nicht die deutsche.
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