Lettland Die Geschichte hat es so gewollt, dass Riga zur größten russischen Stadt der Europäischen Union wurde. Doch bisher wurde recht wenig daraus gemacht
Ein Storch fliegt gen Osten über das weite Land. Grenzen scheint es nicht zu kennen mit seinen Wiesen, Feldern und Wäldern unter einem schon nördlich hellen Himmel, der ebenfalls grenzenlose Weite verspricht. Der Eindruck ist wahr, aber er täuscht auch. Jahrhundertelang war dieser Flecken Erde an der nördlichen Ostsee ein Teil Russlands, heute gehört er zum lettischen Kernland und damit zu einem Staat, der mit nicht einmal 65.000 Quadratkilometern ein Winzling unter den 28 EU-Mitgliedern ist, auch wenn Lettland ab 1. Januar 2014 zur Eurozone stoßen wird.
Eine frische Brise vom Meer lässt die Schatten der Zweige und Blätter tanzen. Eine friedliche Waldsiedlung mit Villen liegt links und rechts der Straße. Wiederum ist der Eindruck ähnlic
#228;hnlich, aber er täuscht auch. „Das ist der Kaiserwald“, erläutert der Historiker Ilgvars Misāns. „Hier war ein Konzentrationslager, kein Vernichtungslager, vorrangig ein Lager für Zwangsarbeiterinnen.“ Solch lapidare Bemerkungen fallen mehrfach bei der Fahrt über das flache Land. Eine Tour durch die „Bloodlands“, wie der amerikanische Historiker Timothy David Snyder die Region von der Krim über Weißrussland bis in die baltischen Staaten nennt. Sie sei geprägt durch extreme Gewalterfahrungen, durch Krieg, Hungersnot, Deportationen, Massaker.Gerade in Lettland lebt die Erinnerung daran teilweise bis heute. Deshalb haben rund 300.000 der etwa zwei Millionen Einwohner sogenannte „Nichtbürgerpässe“, die sie vom politischen Leben bis auf die Kommunalebene ausschließen. Betroffen davon sind größtenteils Russen.Mittlerweile überquere ich eine Brücke über die Düna, vor mir liegt das Zentrum von Riga mit seinen gotischen Backsteinkirchen und orthodoxen Gotteshäusern, seiner Jugendstil-Pracht und seiner spätmittelalterlichen Hanse-Architektur. Eine nordeuropäische Metropole mit fast südeuropäischem Straßenleben. Kein Hauch mehr von Sowjetunion. Auf den ersten Blick zumindest. Was von ihr blieb, sind einige Speisen wie Plow, ein orientalisches Reisgericht, das vielerorts – so in den von Einheimischen wie Reisenden gut besuchten Markthallen in den ehemaligen Zeppelin-Speichern – angeboten wird. Während in der touristisch besuchten Altstadt die Preise westliches Niveau erreichen, bekommt man hier Plow für wenig Geld. Es handelt sich um ein einst aus den mittelasiatischen Sowjetrepubliken eingeführtes Gericht, das für den Durchschnittsletten erschwinglich ist. Immer wieder hört man auf der Straße die russische Sprache, gebraucht von Touristen und natürlich der russischen Minderheit, die sich in Riga mit dem lettischen Bevölkerungsteil die Waage hält.Die lettische Gegenwartsliteratur ist nicht reich an großen Epikern oder Dramatikern, dafür an Essayisten und Lyrikern. In Liedern und Versen tauchen immer wieder Erfahrungen aus einer Zeit der Bedrohung und Eroberung auf. So heißt es in einem Gedicht von Vizma Belsevica (1931 – 2005), die viele gern als erste lettische Literatur-Nobelpreisträgerin gesehen hätten: „Winde wüten. Winde brüllen. Riga schweigt / So schweigt der Schlüssel, wo Schweiß rinnt, am Eisen hämmert / der Puls des Diebes / Der Eroberer fällt immer / Auf dem Pflaster schweigt sein Blut.“Objekte der GroßmächteBezeichnenderweise schrieb der schwedische Autor Per Olov Enquist mit Die Ausgelieferten das international am meisten beachtete Buch zur ambivalenten Geschichte des Landes. Er spürt darin den Schicksalen der 1945 von Schweden ausgelieferten baltischen Mitgliedern der Waffen-SS nach, bei denen es sich überwiegend um Letten handelte. Enquist konnte nachweisen, dass die meisten zwar keine Kriegsverbrecher waren, aber einige eben doch. Kein Einziger wurde – wie damals jeder vermutete, zuallererst die Balten selbst – hingerichtet. Die Mehrheit kam bald frei, hatte aber noch jahrelang mit dem Stigma zu kämpfen, Kollaborateur der Nazis gewesen zu sein. Das Buch erschien erstmals 1968. Eine ganze Epoche später wunderte sich der Verfasser im Herbst 2010, dass sein Werk unverändert wiederaufgelegt wurde. Enquist hatte geglaubt, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion nun lettische Historiker und Schriftsteller die Freiheit nehmen würden, selbst die eigene Geschichte zu erzählen. Aber es blieb still. Im Nachwort zur Neuauflage seines Buches sieht er den Grund im weiter verminten historischen Terrain. Jeder Befund, jede Analyse, jede Erzählung würde wohl „unangenehme Erinnerungen“ ans Tageslicht bringen, „einschließlich des Holocaust und der in Lettland effektivsten Judenausrottung, zu der es im Vergleich zu anderen eropäischen Ländern dank lettischer Hilfe gekommen war“.Die baltischen Völker sind durch keine Sprache, keine gemeinsame Kultur verbunden, aber sie waren es durch die jeweils gleichen Besatzer. Oft wurden sie von Großmächte wie Schweden und dem Russischen Zarenreich als Tauschobjekte benutzt. Als sie sich nach dem Ersten Weltkrieg für unabhängig erklärten, kanzelte der britische Stabschef, Sir Henry H. Wilson, einen Mitarbeiter ab, der sich für die Balten exponieren wollte, indem er ihn vor eine Weltkarte führte und erklärte: „Schauen Sie, junger Mann, schauen Sie sich die winzigen Flecken an. Und dann betrachten Sie das riesige Land dahinter. Wie können diese Länder die Hoffnung haben, nicht verschluckt zu werden?“ Es schien zunächst anders zu kommen – bis das Baltikum im Ländergeschacher zwischen der Nazi-Diktatur und der Sowjetunion verschwand. Im Jahre 1940 kamen die Sowjets, verschleppten viele Letten nach Sibirien, ein Jahr später wurden die Deutschen als Befreier begrüßt.Als die Sowjetarmee 1944 das Besatzungsregime überwunden hatte, flohen rund 80.000 Letten nach Westen, andere wurden nach Osten deportiert, nicht wenige kamen um. Ersetzt wurden sie durch sowjetische Kader, darunter viele Russen, aus deren Familien sich bis heute ein beachtlicher Teil der Einwohner Rigas rekrutiert. Weder in Tallinn (Estland) noch in Vilnius (Litauen) ist das sowjetische Völkergemisch so auffallend konserviert wie in der lettischen Kapitale, die einzige wirkliche Metropole des Baltikums, weil es hier einen leistungsfähigen und eisfreien Hafen gibt.Ob das neue „Okkupationsmuseum“, das 2014 im umgebauten ehemaligen sowjetischen Revolutionsmuseum eröffnet werden soll, die mannigfachen Geschichten um Schuld und Sühne, Treue und Verrat erzählt, bleibt zu hoffen. Die provisorische Ausstellung ist erfreulich sachlich, stellt die Widersprüche dar. Warum ist sie aber in der ehemaligen US-Botschaft untergebracht? Weil – so ist zu hören – den Amerikanern das bisherige Domizil zu klein gewesen ist und sie sich ein neues Missionsgebäude bauten. Entstanden ist eines der größten in Europa, in einem der kleinsten Länder Europas. Kein Wunder, dass das offizielle Moskau diese mutmaßliche Spionagezentrale nahe der russischen Grenze missbilligt.Medienpolitik des KremlAinārs Dimants, Vorsitzender des lettischen Rundfunkrates, plädiert dafür, in der lettisch-russischen Geschichte mehr die gemeinsamen Opfer zu sehen und keine Heldengeschichten zu erzählen. „Schließlich kämpften zwei Divisionen Letten bei der Roten Armee und zwei bei der Waffen-SS.“ Besorgt ist Dimants über den Einfluss aus Moskau auf die „größte russische Stadt der EU“, wie Riga häufig genannt wird.So kam es etwa durch An- und Verkäufe dazu, dass alle russischsprachigen Tageszeitungen der lettischen Hauptstadt in einer Hand sind – in der des russischen Milliardärs Andrej Molschanow. Was jetzt dort geschrieben werde, spiegele die offizielle Position Russlands, das die rechtliche Kontinuität Lettlands wie die der beiden anderen baltischen Staaten nicht anerkenne und in diesem Sinne die russischsprachige Bevölkerung beeinflusse. „Viele Russen leben körperlich in Riga, aber geistig in Moskau“, sagt Ainārs Dimants. Er vergleicht die Medienpolitik des Kreml mit der des NS-Staates in den dreißiger Jahren. „Überall, ob in Georgien oder Lettland, kehrt Moskau zu imperialer Politik zurück. Die russischsprachigen Minderheiten sollen zur fünften Kolonne werden.“ Aber könnten sie nicht auch eine Brücke sein?, frage ich ihn. „Dafür müsste sich die EU stärker für ein demokratisches Russland engagieren.“Das Grundmisstrauen gegen „die Russen“, womit vorrangig die Politik im Kreml gemeint ist, lässt sich nicht nur bei Intellektuellen wie Dimants, sondern gleichsam bei zufälligen Restaurant-Bekanntschaften spüren. Besonders die NATO-Mitgliedschaft halten viele für eine Garantie, nicht noch einmal „verschluckt“ zu werden. Welche Laune und List der Geschichte ist es da, dass ausgerechnet reiche Russen das unabhängige Lettland vor dem Bankrott gerettet haben. Bei Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008 hatte ihnen das lettische Parlament ein Angebot unterbreitet, das sie nicht ablehnen konnten.Den Staatsbankrott vor Augen, war seinerzeit beschlossen worden, all denen ein Schengen-Visum zu geben, die mindestens 150.000 Euro in lettische Immobilien oder Unternehmen investieren wollten. Wer unter den russischen Oligarchen dieser Offerte nicht widerstehen konnte, ist heute eine gewisse Versicherung gegen alle Machtansprüche Moskaus. Für Investoren aus Russland bleibt Lettland nämlich nur attraktiv, solange es sich von der Russischen Förderation fernhält und EU-Privilegien genießt.300.000 gingen wegWenn in Lettland die nationale Frage als beantwortet gilt, lässt sich Gleiches keinesfalls über die soziale sagen. Oft wird der EU-Staat gelobt, immerhin spricht IWF-Direktorin Christine Lagarde von einem Vorzeigemodell für den Umgang mit der Finanzkrise, das Schule machen sollte. Aber seit die Finanzmärkte vor fast fünf Jahren ins Straucheln kamen, verließen etwa 300.000 das Land, um in Großbritannien, in Skandinavien, aber auch in Deutschland zu arbeiten. Aus der Altersgruppe der 18 bis 40-Jährigen soll dieser Exodus – so der lettische Demograph Ilmārs Mežs – rund ein Viertel erfasst haben. Auf jeden Fall ist die Bevölkerung seit 2008 von 2,2 auf 2,0 Millionen geschrumpft.Offiziell liegt der monatliche Durchschnittslohn derzeit bei 650 Euro brutto, aber ein Drittel verdient nur das Mindestgehalt von 287 Euro. Für viele ist die Lage noch prekärer. Eine Deutschlehrerin in Riga nennt ihren Beruf ein Hobby, von dem sie nicht leben könne, deswegen müsse sie einige Tage im Finanzministerium oder anderswo dolmetschen. Da verdiene sie an einem Tag so viel wie als Lehrerin in einem Monat. Danach sehe ich das stattliche Gymnasium, in dem sie hinter einer baumhohen Hecke unterrichtet, mit anderen Augen. Lettland ist, wenn man sich nicht nur von der Macht der Fassaden in der Altstadt von Riga beeindrucken lässt, ein tief gespaltenes Land. Der Abstand zwischen Reich und Arm klafft immer weiter auseinander, auf der einen Seite die Oligarchen, auf der anderen der Not gehorchende Selbstversorger. Gäbe es dazu den Willen in der EU, müsste hier eine neue Ostpolitik ansetzen, um soziale wie ethnische Brücken zu bauen.
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