Wir alle sind gedopt

Kommentar Tour de France - nichts weiter als "rasende Plakatsäulen"?

Bloß gut, dass es Eurosport und Sat.1 gibt, nun da sich ARD und ZDF enttäuscht von ihren Lieblingen abgewandt haben. Wer ersetzt eigentlich den Öffentlich-Rechtlichen die Einbußen? Der viel zitierte Gebührenzahler, der nun bei den Privaten vorbei schaut?

In den fünfziger Jahren las ich als Zwölfjähriger in der Leipziger Volkszeitung den Tour-de-France-Roman Giganten der Landstraße von André Reuze, erschienen 1928. Bereits zu jener Zeit war bekannt, was im Profiradsport läuft. Schon da war von Doping die Rede und manch anderem, von ausgestreuten Nägeln oder Frauen, die den Fahrern aufs Zimmer geschickt wurden, um sie zu schwächen, von Manipulationen an Rennrädern, Siegabsprachen. "Wie überall" - hieß es bei Reuze - "muß auch beim Rennsport die Flagge die Ware decken, und die Helden der Landstraße sind letzten Endes nichts weiter als rasende Plakatsäulen! Da aber jede Reklame, die Geld kostet, wieder Geld einbringen muß, lautet der Befehl: Krepiere... aber fahre!" Und an anderer Stelle: "Wenn schon Reklame, dann richtig und auch fürs Doping, das ja oft mehr zum Siege beiträgt als das beste Rad!" Wirklich schade, dass wir immer noch nicht so weit sind und inmitten des ganzen Werbedrecks nicht auch für Epo, Testo, Hämo und so weiter geworben wird. Vielleicht füllt Sat.1 diese Lücke.

Als Kind hatte mich die Internationale Friedensfahrt begeistert. So dass ich als Jugendlicher selbst ein paar Radrennen bestritt, der Adrenalinausstoß war fast so toll wie später bei einer Besteigung des Chimborazo in Ecuador, auch wenn ich kein Rennen gewann. Als 1960 Bernhard Eckstein vor Täve Schur Amateur-Weltmeister wurde, war ich am Sachsenring und übernachtete dort, um am nächsten Tag auch die legendären Profis zu sehen, Jacques Anquetil, Hennes Junckermann oder den Belgier Rik van Looy, der gewann. Wie viele rote Blutkörperchen sie im Blut hatten, interessierte niemanden.

Nun sitze ich, trotz allem, vor den TV-Bildern der Tour - die alten Namen, Rasmussen, Valverde, Winokurow, die alle mit Ullrich, Armstrong, Landis und Basso gefahren sind, und auch schon wegen Doping Bestrafte sind wieder dabei, und immer tauchen neue Hoffnungsträger auf. Vor drei Jahren Patrick Sinkewitz, heute Linus Gerdemann. Ich sehe sie die Berge hinaufkraxeln und die Abfahrten hinabschießen. Schon das Zusehen ist wie Doping. Diese Körper in hauteng anliegenden, vogelbunten Trikots und der Geschwindigkeitsrausch sind so sexy, dass niemand darüber spricht. Kombiniert mit den Hubschrauberflügen über traumschöne Landschaften vermittelt sich das Gefühl einer Freiheit, die uns längst abhanden gekommen ist. Deshalb die Einschaltquoten. Man kann stundenlang zusehen. Noch besser, wenn man die Reporterstimmen abschaltet, sich nur den Bildern hingibt und dazu Musik hört.

Die Zuschauer an der Strecke sind besessener denn je. Nachdem Übermensch Armstrong nicht mehr fährt, ist es wieder spannend geworden. Wir wollen die Höchstleistungs-Show, wen interessieren Hämatokrit-Werte von irgendjemandem, sei er Radsportler, Fußballer oder Leichtathlet? Auch Verletzungen der aufgepeitschten Körper interessieren nicht, es sei denn die Knochen liegen blank, und es gibt viele Wiederholungen zu sehen und den Sermon der Reporter dazu. Nicht einmal der Tod von Marco Pantani hat jemanden aufgerüttelt.

Von allen beichtete Jörg Jaksche bisher am detailliertesten. Wer ist der Nächste? Bekommt man Geld fürs Reden oder Schweigen? Wie viel kriminelle Winner-Energie steckt in diesem Laden? Jaksche hat nicht mehr gesagt, als alle wussten: Es waren nicht nur erfolgsgeile Sportler, die sich heimlich spritzten - es sind Verantwortliche auf allen Ebenen involviert. Jan Ullrich muss es wie ein blöder Witz vorgekommen sein, als ihn eine Frau aus der westdeutschen Provinz verklagte, seine Sponsoren hinters Licht geführt zu haben.

Lasst sie dopen! Erfreut euch an den Muskeln der Gewichtheber! Auch wenn Schäuble und all die Sauberkeit und Ehrlichkeit heuchelnden Biedermänner und -frauen auf die Barrikaden gehen und so tun, als ob sie gar nicht merkten, dass sie bekämpfen, was dieser Gesellschaft unausrottbar immanent ist, der Betrug. Ihr werdet ihn im Radsport nicht verhindern und nirgendwo sonst. Ohne Betrug kein Sieg, ohne Sieg kein Geld. Jeder kämpft ums Überleben. Ich jedenfalls breche den Stab nicht über den Gladiatoren.

Rainer Simon ist Schriftsteller und Filmregisseur.


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden