Wir brauchen Literaturkritik!

Radio Der WDR will Buchrezensionen aus seiner Morgensendung streichen. Viele sind empört. Michael Maar macht sich ein paar grundlegende Gedanken
Ausgabe 05/2021
Wir brauchen Literaturkritik!

Illustration: der Freitag

Die Romantiker hatten, wie so oft, übertrieben. Friedrich Schlegel fand, Poesie könne nur durch Poesie kritisiert werden und die Philologie sei eine Kunst, die keineswegs unterhalb der Originalkunst rangiere – insgeheim setzte er sie vielleicht sogar eine kleine Etage höher. Kritik als Kunstform – es war ein hoher Anspruch, den Schlegel, aber auch ein Spätromantiker wie Walter Benjamin erfüllten. Die Anlässe und Auslöser ihrer Kritiken sind heute vergessen, überlebt hat ihre Meta-Poesie.

Darin immerhin hatte Schlegel nicht übertrieben: In der Literaturkritik ging es um die Kunst und die Form. Gute Literaturkritiker wissen, dass es eben darauf ankommt: die höhere Einheit von Inhalt und Form, von Stoff, Stil und Struktur. Und nicht darum, den Plot zu referieren oder sich ins Innenleben von Figuren zu versetzen, die doch zunächst nur aus Sprache bestehen. Auch wenn man nicht die Schlegel’schen Ansprüche hat: Kann man sich in der Literaturkritik wenigstens auf Urteile einigen?

Im Lauf der Jahrhunderte allenfalls. Nicht so leicht ist es bei der Gegenwartsliteratur. Man bewegt sich auf dem schwierigen Terrain des Geschmacksurteils. Der eine mag die Kurzsatz-Prosa der Marlene Streeruwitz, die andere zieht die vertrackte Syntax Brigitte Kronauers vor. Der eine mag die Gurke, der andere die Tochter des Gärtners, wie man in Polen sagt. Kann man es dabei belassen? Darüber hatte man sich schon zu Schlegels Zeiten in Königsberg den Kopf zerbrochen.

Das Rätsel des Geschmacksurteils

In der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant über das ewige Rätsel des Geschmacksurteils: Dieses Urteil sei zwar nicht beweisbar, aber auch nicht abweisbar. Denn jeder ästhetisch von etwas Überzeugte sinne an, sein subjektives Geschmacksurteil als allgemeingültig zu akzeptieren. Genau um dieses Ansinnen bemüht sich die gute Literaturkritik. Sie ist, alle Schlegel’schen Übertreibungen abgezogen, eine ebenso ehrwürdige wie schwierige, so undankbare wie lebensnotwendige Gattung.

Ihr Verhältnis zum literarischen Gebilde, auf das sie sich bezieht, ist dabei voller Spannungen. Literaturkritik kann der Geier neben dem Adler sein, oder der Falke neben der Schnepfe – es kommt darauf an. Aber beide, das literarische Werk und sein kritischer Begleiter, sind aufeinander angewiesen. Die Leser der Zeitungen und Magazine können vom einen zum anderen schauen, ihr Urteil bilden und im Zweifelsfall gegen die Kritik votieren.

Die Leser, und die Hörer. Seit einem Jahr sind viele Menschen länger zu Hause als früher. Einige davon entdecken das Radio neu. Manche hören auf RBB-Klassik jeden Morgen Proust. Und auch die Neuerscheinungen werden den Hörern vorgestellt, durch Rezensionen und Gespräche mit den Autorinnen und Autoren, die sich zu ihrem jüngsten Werk befragen lassen – wie in der Sendung des SRF 52 beste Bücher. Wie soll man es nun nennen, wenn ausgerechnet dieses fragile, kostbare Genre ausgedünnt oder abgeschafft werden soll? Liegt es am Kostendruck?

Im Promillebereich

Aber der ist lächerlich. Wenn die Literaturkritikerin, die einen 600-Seiten-Roman liest und auf drei Seiten plastisch zusammenfasst, den unbedingt zu vermeidenden Fehler beginge, anschließend ihren Stundenlohn auszurechnen, läge er weit unter allen Mindestsätzen. Was es den öffentlich-rechtlichen Sender kostet, Literatur lebendig zu halten, liegt im Promillebereich. Anders und in Gramm gesagt, es ist der Fußzeh eines Sumoringers.

Wie soll man es also nennen, wenn Intendanten und Programmchefs im WDR und anderswo genau diese Formate abschaffen, weil sie sich dem Aufmerksamkeitsdefizit der jüngeren Hörer anpassen wollen, das sie durch diese Kürzungen erst befördern? Ist es Opportunismus und vorauseilender Quoten-Gehorsam? Schamvergessene Missachtung des öffentlichen Auftrags? Ist es eine Schande, gar ein Verbrechen? Es ist, wie Talleyrand gesagt hätte, schlimmer als ein Verbrechen: Es ist eine Dummheit.

Michael Maar veröffentlichte zuletzt den Bestseller Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur (Rowohlt)

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