Wer in Vietnam die Gedenkstätte zur Erinnerung an das Massaker My Lai besucht, fährt zuvor an einer bunten Propagandatafel vorbei. Im Malstil des sozialistischen Realismus wird das Volk zur Wachsamkeit angehalten, doch zielt die Warnung nicht auf den alten Feind, sondern auf einen neuen: Aids.
Acht Millionen Menschen in Asien sind nach Angaben der UN mit dem Virus infiziert; das entspricht einem Viertel der weltweit Betroffenen. Angesichts der riesigen Bevölkerung Asiens könnte diese Durchschnittszahl fälschlich zur Geringschätzung des Problems verleiten. Zwar hat Aids, anders als in Afrika, noch in keinem Staat Asiens den Charakter einer "allgemeinen Seuche" angenommen, worunter international eine Infektion von mehr als fünf Prozent der Bevölkerung verstanden wird. Doch leiden einzelne Regionen und Gruppen dramatisch unter der Krankheit.
Brennpunkt Mekong-Region: In Thailand, Myanmar (Burma) und Kambodscha ist Aids am weitesten verbreitet, und die Ursachen dafür fügen sich zu einer explosiven Mischung - Drogen, Prostitution, Migration, Frauen- und Kinderhandel. Allein wenn man bedenkt, dass die oftmals minderjährigen Sex-Arbeiterinnen am Tag bis zu 80 Kunden bedienen müssen, um ihre Familien zu unterhalten, lässt sich ermessen, wie rasant die Aids-Raten hochschnellen können: bei den sogenannten Risikogruppen bereits teilweise auf 90 Prozent.
Beispiel Kambodscha: Mit 200.000 Infizierten hält das kleine Land in relativen Zahlen den traurigen Rekord Asiens. Die Nationale Aids-Behörde schätzt, dass sich am Tag 100 Menschen neu anstecken und 20 sterben. Den meisten Kambodschanern sei zwar die Existenz von Aids bewusst, sagt eine Expertin, aber die wenigsten realisierten, dass die Ansteckungsgefahr auch von Menschen ausgeht, die noch nicht krank aussehen.
Thailand war Ende der achtziger Jahre eines der ersten asiatischen Länder, das die Gefahr von Aids erkannte und eigene Programme auflegte. Regierung und zivilgesellschaftliche Gruppen kooperierten in Aufklärungskampagnen, warben unter anderem für Kondome beim kommerziellen Sex. Thailand gilt heute als positives Beispiel, wie die Verbreitung von Aids verringert werden kann. Die gute Nachricht ist allerdings vor dem Hintergrund einer Katastrophe zu lesen: fast eine Million Thailänder hat sich schon angesteckt.
Drei Viertel aller Asiaten leben heute noch in Regionen, die von Aids wenig betroffen sind. Dazu zählen Teile Indiens und Chinas, die Philippinen, Indonesien, Korea, Bangladesh, Bhutan und Sri Lanka. Indien hat bereits seit einem Jahrzehnt Programme zur Aids-Bekämpfung; Aufklärungskampagnen zielten vor allem auf Jugendliche - mit Hilfe von Pop-Musik, Filmen, Festivals und Elefantenparaden. Obwohl die meisten indischen Bundesstaaten nicht als Problemgebiet gelten, leben auf dem bevölkerungsreichen Subkontinent mehr Infizierte als in irgendeinem anderen Land der Welt.
Leiden ist individuell und keine statistische Größe. Dennoch warb die Vize-Präsidentin der Weltbank, Mieko Nishimizu, im vergangenen Herbst mit schnöden Zahlen für ihren Appell: "Die asiatischen Regierungen müssen jetzt handeln. Verleugnung ist sinnlos. Asien hat die goldene Gelegenheit, früh zu handeln." Den Staaten, die so stolz sind auf ihre Entwicklungsfortschritte in den vergangenen zwei Jahrzehnten, hielt sie vor, wie schnell das Erreichte verloren gehen kann, wenn die Verbreitung von Aids nicht eingedämmt wird - die Lebenserwartung geht zurück (was im Mekong-Dreieck schon der Fall ist), das Wirtschaftswachstum wird eingedämmt, den nationalen Haushalten droht Überlastung.
Die unzureichende Kontrolle von Blutkonserven ist kein besonderes asiatisches Spezifikum. Asienspezifisch aber mögen Werte, Sitten und Glaubensvorstellungen sein, die der Aufklärung über Aids und seiner Eindämmung nicht gerade förderlich sind. Dazu zählt der hohe Wert der Familie, der sich wie eine konfliktverleugnende Decke über die Wirklichkeit vor allem männlichen Verhaltens legt. Dazu zählen auch mangelnde Freiheitsrechte von Frauen, die oftmals zum ahnungslosen oder belogenen Opfer von Ansteckung werden und dann als Aids-Kranke besondere Diskriminierung erfahren.
Malaysia, mehrheitlich muslimisch, ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie der Kampf gegen Aids ein Kampf um die Köpfe ist. Malaysia verfügt im Vergleich zu seinen ärmeren Nachbarn über mehr Wohlstand, mehr Bildung und ein besseres Gesundheitssystem. Weil den malayischen Muslimen Sex außerhalb der Ehe durch religiöse Gesetze verboten ist, konnte sich lange die Vorstellung halten, Aids sei "eine Strafe Gottes", beziehungsweise die Krankheit sei hereingeschleppt durch promiske westliche Touristen.
1994 wurde Marina Mahathir, die streitbare Tochter des langjährigen Premierministers, Vorsitzende des Nationalen Aids-Rats. Sie provoziert die Öffentlichkeit durch ihre pointierten Statements gegen Ausgrenzung und Diskriminierung: "Die Wahrheit ist, dass die Leute mit Aids durch uns mehr bedroht werden als wir durch sie. Wir, die Gesunden, sind diejenigen, die zum Fürchten sind." In Malaysia sind heute 30.000 infiziert, bei 2.800 ist die Krankheit ausgebrochen. Immer noch werden Fälle publik, da Infizierte erst die Wohnung verlieren und dann den Arbeitsplatz. Aber allmählich beginnt das islamische Establishment, Aufklärung als seine Sache zu begreifen. Der Weg des Islam zeichne sich dadurch aus, erklärte jüngst eine Gruppe muslimischer Gelehrter und Aktivisten, dass die Gemeinschaft für Leidende sorge.
Dass man bei den Straßenhändlern Asiens billigste Raubkopien von Musik-CDs und teurer Software kaufen kann, ist bekannt. Auch bei der Behandlung Aids-Kranker gibt es einen asiatischen Weg: Mehrere Länder stellen Medikamente, deren Exklusivrechte in den USA oder Europa liegen, selbst her bei Ignorierung oder Umgehung internationalen Patentrechts. In Indien betragen die Kosten einer monatlichen Behandlung nach Zeitungsberichten derart nur rund 50 Dollar - für indische Verhältnisse immer noch eine Riesensumme, aber nur ein Fünftel der entsprechenden Kosten in den USA. Ähnliches gilt für Thailand. Beide Länder haben die Regelungen der World Trade Organisation zum Schutz geistigen Eigentums bisher nicht unterzeichnet.
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