Pandemie Hysterie im Kiez: Der soziale Stress ist schlimmer als die Krankheit an sich, berichtet Freitag-Autorin Stefanie Oswalt. Ihr Sohn hatte sich mit dem H1N1-Virus infiziert
Freitagvormittag erreicht mich die verhängnisvolle Mail: „Hugo* ist Schweinegrippe positiv getestet“, schreibt seine Mutter an alle Eltern, mit deren Kindern er in letzter Zeit Kontakt hatte. Hugo sitzt in der Schule neben meinem Sohn Ben. „Alles nicht schlimm. H. springt schon wieder fröhlich in der Wohung herum.“, versucht sie ihre Nachricht zu entschärfen. Trotzdem reagieren meine Alarmsensoren. Schweinegrippe, das fehlt noch! Mühsam habe ich mir die kommende Woche frei gehalten, um eine Terminarbeit fertigzustellen. Außerdem will meine schwangere Schwester zu Besuch kommen.
Eine Unterhaltung mit Ben kommt mir in den Sinn, vor einigen Wochen, als die ersten H1N1-Fälle gemeldet wurden. „Wenn du an der Schweinegrippe stirbst, dann
rbst, dann ist es zwar schade – aber bei mir ist es total ungerecht, ich bin ja erst sieben und habe das Leben noch vor mir.“ Damals hatte mich die pragmatische Sichtweise des Knirpses etwas schockiert. Nun könnte es ernst werden...24 Stunden später wacht Ben mit Kopfschmerzen auf. Klagt, jammert, sieht aus wie ausgespuckt und hat steigendes Fieber. Ich versuche, ruhig zu bleiben. Erst mal klären, ob es wirklich Schweinegrippe ist. Aber es ist Samstag, die Kinderärzte haben alle zu, wen fragen? Anruf im Krankenhaus: Schwangerenbesuch und Verdacht auf Schweinegrippe. „Na, dann kommse ma vorbei in die Notaufnahme.“ Ungläubiges Staunen meinerseits: Wie, einfach so und dabei alle anderen armen Patienten mit dieser schlimmen Krankheit infizieren. Unverantwortlich!! Also Anruf im nächsten Krankenhaus. Jaja, man solle draußen warten, wir würden dann abgeholt. Fahre mit Ben ins Krankenhaus, melde uns an. Ein Pfleger kommt heraus, etwas genervt: „Wenn da alle mit so einem Verdacht kämen...“Ich ärgere mich. Ich bin der Ansicht, mich verantwortungsvoll zu verhalten und werde hier nicht ernst genommen. Wir warten im „Infektionsraum“, eine Art Schuhkarton mit drei Stühlen darin und drei Kinderbüchern. Ben jammert, ich lese vor. Nach einer Stunde nimmt ein unaufgeregter Kinderarzt einige Proben und entlässt uns mit einem Tamiflu-Rezept. Der Schnelltest sei in einer Stunde fertig, aber bis zum endgültigen Resultat am Montagabend dürfe Ben nicht in die Schule.Wieder zu Hause stecke ich Ben ins Bett, die Geschwister ins Nebenzimmer, und informiere meine Schwester, die ihre Berlin-Reise absagt. Anruf aus der Klinik: Das Ergebnis ist negativ. Aber prophylaktisch solle ich ruhig Tamiflu geben. Empfinde die Aussage als paradox und entscheide, das Mittel nur dann zu geben, wenn das Fieber enorm steigt. Schließlich hört man ja auch wenig Erfreuliches über Nebenwirkungen und mangelnde Erprobungsphasen, vor allem bei Kindern.Das Wochenende geht vorbei, der Montag, Bens Fieber hat 38, 5 Grad nie überschritten, dümpelt eine Weile um 37, 5 Grad, die Kopfschmerzen lassen nach. Seine Geschwister sind quietsch-fidel.Dienstag früh meldet das Robert-Koch-Institut: Testergebnis doch positiv. Sobald Ben einen Tag fieberfrei gewesen sei, dürfe er aber wieder zur Schule. Minuten später wieder Telefon. Das Gesundheitsamt: Man will mit mir die Konsequenzen aus dieser Nachricht besprechen und das Umfeld des Krankheitfalls sondieren. Es gibt Geschwisterkinder, Mutter Journalistin, Vater Architekt. Alles gut, so das Gesundheitsamt, besondere Vorsichtsmaßnahmen seien unnötig. Zu meiner Verblüffung erklärt man mir, die beiden Kleinen könnten selbstverständlich in den Kindergarten gehen, man werde in den Einrichtungen gleich anrufen und das für mich regeln: „Ist für die Geschwister auch besser als den ganzen Tag beim kranken Kind zu sein.“Ganz meine Meinung. Denn die Arbeit drängt und die Aussicht, allein mit allen dreien eine Woche in Quarantäne zu verbringen, ist niederschmetternd. Ein wenig merkwürdig kommt es mir aber dennoch vor. Nicht zu unrecht, wie sich zeigt: Als ich eine halbe Stunde später mit Anton und Lisa losziehe, setzt diese Krankheit sämtliche archaischen Seuchenängste frei. „Na, seid ihr krank?“ begrüßen mich Eltern vor Lisas Tagespflege-Stelle. Nein, sage ich, nur Ben. Die Eltern hatten mich mit den beiden die Straße herunterkommen sehen, und waren nun mit mir zusammen zur Tagesmutter zurückgekehrt, um ihre Zwillinge vor uns Seuchenschleudern in Sicherheit zu bringen.Hassobjekt des ganzen KiezesWie die Tagesmutter mir nachher erklärt, hatten etliche Eltern den Anruf des Gesundheitsamtes mitbekommen und geradezu panisch reagiert. „Wenn Lisa hier bleibt, dann kommen die anderen Kinder nicht.“ Ich bin ratlos. Verhalte ich mich so, wie mir von den Behörden geraten wurde, mache ich mich damit zum Hassobjekt des ganzen Kiezes. Wie soll ich glaubwürdig meine neuen Erkenntnisse vermitteln, dass die ganze Krankheit vergleichsweise harmlos zu sein scheint, während die Öffentlichkeit seit Wochen aus den Medien mit Horrorszenarien gefüttert wird?Mit der Tagesmutter einige ich mich, Lisa an diesem Vormittag nur mit auf den Spielplatz gehen zu lassen und sie von dort auch gleich abzuholen, damit sie niemanden gefährdet. In den nächsten Tagen soll sie zu Hause bleiben. In Davids Kindergarten eine ähnliche Situation: Schon als wir ankommen, weichen alle einige Schritte zur Seite. Manche Eltern kommentieren argwöhnisch, ihre und meine Kinder hätten doch in der letzten Zeit miteinander gespielt. Es gibt schwangere Mütter unter den Eltern, natürlich kann ich nicht ausschließen, dass meine Kinder das Virus doch weitergeben. Was wenn... Ich nehme die Kinder wieder mit nach Hause und teile dem Gesundheitsamt mit, dass ihre fürsorglichen Anrufe genau das Gegenteil bewirkt haben. Es ist aus sozialen Gründen völlig undenkbar, die Kinder in ihren Einrichtungen abzugeben.Man gibt sich erstaunt, auch betroffen. Ja, die Bevölkerung sei etwas hysterisiert, die Verläufe der Krankheit ja völlig milde und letztlich harmloser als jede normale Grippe. Ist das eine Folge der von der Pharma-Industrie hoch geschriebenen Panik?, frage ich. Das wolle man jetzt nicht kommentieren, ist die Antwort. – Aber es ist ja Anwort genug. Ich versuche, unsere Babysitter für die Nachmittage dieser Woche zu engagieren. Erfolglos: Sie wollen sich nicht gefährden. Außerdem: Was, wenn sie die Infektion weitergäben? Katastrophenszenarien von Kettenreaktionen.In der gleichen Woche spekuliert die Berliner Boulevardzeitung B.Z. angesichts einer 180 Kilo schweren Raucherin, die an Multiorganversagen und Blutvergiftung zu Tode gekommen ist, darüber, ob es sich hierbei um das erste deutsche Schweinegrippe-Opfer handele, denn die Frau hatte auch den H1N1-Virus im Blut. Die Tage vergehen. Ben spielt nachmittags mit Hugo. Die Kleinen bleiben fieberfrei. Der Kindergarten ringt sich dazu durch, Anton nach der Inkubationszeit wieder aufzunehmen, auch Lisa bringe ich wieder zur Tagesmutter.Manche empfehlen: Gar nicht erst testenNur ein anderer Vater hat den Mut, seine Tochter in dieser Woche auch dort betreuen zu lassen. Ich wundere mich, wie viele Eltern aus bloßen Prophylaxe-Gründen ihre Kinder eine ganze Woche zu Hause behalten können. Lakonie stellt sich ein. Ich erfahre, dass etliche Schüler aus Bens Klasse in der Woche zuvor wegen Grippesymptomen zu Hause geblieben waren. Ich höre von starken Kopfschmerzen und Fieber, die im Viertel umgehen. Man erzählt mir von Ärzten, die raten, den Test lieber gar nicht erst zu machen. Und langsam verdichtet sich meine Vermutung: Fast alle haben sie schon gehabt, die dämliche Grippe, und keiner weiß es...
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.