Im Gespräch Frie Leysen, die künstlerische Leiterin des Festivals „Theater der Welt“, über die Festivalisierung des Theaters, multiple Identitäten und Schreibfehler im Programmheft
Ein zentrales Gestaltungsmittel Ihres Programmhefts sind Schreibfehler. Was bedeutet diese Irritation?
Die Idee von „Theater der Welt“ ist, Künstler aus der ganzen Welt einzuladen, die eine starke persönliche Vision von ihrer Gesellschaft haben. Und wenn alle diese Künstler nach Essen und Mülheim kommen, wird das Festival ein Clash der Visionen sein. „Theater der Welt“ lädt dazu ein, die Welt durch die Augen anderer Leute zu sehen. Es handelt sich um einen Perspektivwechsel. Diese Produktionen zu verstehen, geht jedoch nicht ohne Missverständnisse, und das bedeuten die Buchstabendreher im Programmheft.
Ist der enzyklopädische Anspruch, „Theater der Welt“ zeigen zu wollen, nicht überholt?
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pruch, „Theater der Welt“ zeigen zu wollen, nicht überholt?Zunächst ist „„Theater der Welt““ ein Titel, den man nicht ändern kann. Man sollte aber auch nicht die Ambition haben, komplett sein zu wollen. Es gibt Leute, die sagen, wir kennen das alles. Doch trotz aller Informationskanäle, wissen wir nicht, wie die Leute leben und arbeiten. Der Tänzer Pichet Klunchun kommt aus Thailand, von dem wir nur die Strände kennen.Besteht nicht die Gefahr, Pichet Klunchun als Repräsentant für „die thailändische Kultur“ zu nehmen?Darin liegt eine Gefahr. Ich behaupte: Der Künstler vertritt niemanden, kein Land, keine Kultur, kein Volk, keine Nation, nur sich selbst. Wenn er das gut macht, ist das schon ein großer Auftrag. Für noch gefährlicher halte ich die neue Exotik. Deshalb nennen wir im Programmheft auch die Stadt – nicht das Land – in der ein Künstler lebt. Es ist wichtig die Leute zu situieren, aber ich habe Angst vor einer Exotik, die unsere hochkomplexe Welt in handliche Klischees und Labels verpackt. Das macht Kompliziertes einfach und ist gefährlich.Nach welchen Kriterien haben Sie die Produktionen ausgesucht?Es gibt einige Schlüsselworte für mich: Die Auswahl muss international sein. Zweitens sollen die Produktionen zeitgenössisch und nicht folkloristisch sein; das heißt, wir haben vor allem junge Künstler eingeladen, die interdisziplinär arbeiten, also Theatermacher, Choreographen, Filmemacher, Schriftsteller und Musiker. Das ist eine Tendenz, die in ganz Europa zu beobachten ist. In Deutschland sind diese Mischformen aufgrund der starken Theatertradition und dem Mangel an Produktionshäusern noch nicht so verbreitet. Außerdem wollen wir durch Koproduktionen einen Freiraum schaffen, in dem der Künstler ohne ökonomischen, politischen oder religiösen Druck arbeiten kann. Zum Beispiel bei der Inszenierung der deutschen Barockoper Montezuma von Carl Heinrich Graun, die von der Eroberung Mexikos durch die Spanier handelt und die von einem mexikanischen Regisseur inszeniert wird.Es geht also um Identität. Ist das ein globales Thema?Ich glaube, es geht eher um den Verlust von Identität und multiple Identität. Die „Montezuma“-Produktion erzählt auch davon, dass ein Teil der Mexikaner den Verlust seiner aztekischen Kultur beklagt, ein anderer froh ist, eine aztekisch-lateinamerikanisch-spanische Misch-Indentität zu haben. Ich gebe Edward Said Recht, dass die multiple Identität unsere Zukunft ist. Wir sind alle Bastarde und das sollte ein Kompliment sein.Auch die spartenübergreifende Arbeitsweise könnte man als Frage der Identität verstehen.Natürlich gibt es im Festival auch textbasierte Produktionen wie Guy Cassiers Dramatisierung von Musils Der Mann ohne Eigenschaften oder Beatriz Catanis Insomnio. Der Text ist wichtig im Theater, aber das Bild, die Musik, die Architektur, der Raum sind genauso wichtig. Die Interdisziplinarität vollzieht sich auf zwei Ebenen: indem in einer Produktion verschiedene Sparten zusammenkommen wie bei dem samoanischen Künstler Lemi Ponifasio. Und indem etwa der Filmemacher Kornél Mundruszó Theater macht.Werden die Festivals durch die vielen Koproduktionen nicht immer austauschbarer?Die gleiche Produktion steht bei „Theater der Welt“ in einem anderen Kontext als bei dem Festival in Avignon. Mir gehen die typischen Festivalproduktionen auch etwas auf die Nerven, aber wir machen das Festival doch nicht für die Kuratoren, sondern für die Künstler und das Publikum. Die Menschen fahren nicht in ein anderes Land, um sich eine Produktion anzuschauen. Große Produktionen sind nur möglich, wenn verschiedene Festivals oder Häuser zusammen arbeiten. Außerdem soll eine Inszenierung auch ein Leben haben und touren, und das kann man durch Kooperationen garantieren.Gibt es nicht zu viele Festivals?Wir leben in einer Gesellschaft, die Events will, und wir sind vielleicht nicht mutig genug, dagegen anzugehen. Selbst die Spielpläne mancher Theater ähneln oft eher kleinen Festivals.Viele Theater sind stolz auf diese internationalen Produktionen.Die internationale Zusammenarbeit ist derzeit ein Modewort. Ich habe Vorbehalte gegen das Zusammenspannen von Leuten, die nichts miteinander zu tun haben. Ausländische Regisseure, die in ein Theater eingeladen werden, sind oft unglücklich, dass sie nicht mit ihren eigenen Schauspielern arbeiten können.Ist es nicht oft die Politik, die den Theatern diese Internationalität abverlangt?Der künstlerische Sektor, und da schließe ich mich ein, ist viel zu brav. Wenn man uns sagt, wir sollen multikulti sein, dann machen wir das. Wenn man uns sagt, wir sollen international zusammenarbeiten, machen wir das auch. Außerdem sind wir alle Weltverbesserer, deswegen lassen wir uns Probleme aufdrängen, an denen die Politik, die Wirtschaft und die Bildung gescheitert sind. Doch letztlich wird die Kunst allein diese Probleme nicht lösen.
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