Wir lernen, indem wir über Leichen gehen

Im Gespräch II Sonia Shah über Medikamentenversuche in der Dritten Welt und die Abhängigkeit der Ärmsten von der westlichen Pharmaindustrie

FREITAG: Tests an Menschen sind unverzichtbar, um neue Medikamente zu entwickeln. Was haben Sie dagegen?
Sonia Shah: Das Problem ist, wie diese Tests durchgeführt werden, und wer an ihnen teilnimmt. Wir müssen sehen, dass die Menschen in den Entwicklungsländern die Risiken und Gesundheitsschäden tragen, während die Bewohner des Nordens den ganzen Nutzen davon haben. Die internationalen medizin-ethischen Vereinbarungen schreiben eigentlich vor, dass die gleichen Menschen an den Tests beteiligt sein sollten, die auch von ihnen profitieren. Das ist nicht der Fall. Übrigens nicht nur aufgrund der Menschenversuche, sondern auch weil die Interessen an medizinischer Forschung weit auseinanderklaffen. Afrika, Asien und Südamerika kämpfen vor allem mit den so genannten vernachlässigten Krankheiten wie zum Beispiel Tuberkulose, eine typische Armutskrankheit, oder die Menschen leiden an Malaria oder Chagas (einem Infekt, der besonders in Südamerika verbreitet ist, Red.). Für diese Erkrankungen, unter denen Millionen Menschen leiden, interessiert sich die Pharmaindustrie nicht. Sie geht nach Indien und testet dort Herzkreislaufmedikamente oder potenzsteigernde Mittel. In den westlichen Ländern ist es nahezu unmöglich, so kostengünstig zu forschen wie beispielsweise dort. Die Globalisierung der medizinischen Forschung nutzt nur dem Norden.

Aber auch in Indien müssen bei medizinischen Tests bestimmte Regeln eingehalten werden ...
Wenn man etwas an der Oberfläche kratzt, stellt man fest, dass von einer "informierten Einwilligung" oft keine Rede sein kann. In vielen dieser Länder gibt es keine gründliche Aufsicht oder wirksame Kontrolle dieser Versuche. Wir wissen nicht einmal, welches Ausmaß diese Tests haben. Das ist das zweite Problem: Es gibt keine unabhängige Institution, die aufzeichnen würde, wo welche Tests stattfinden und wer was an Menschen ausprobiert. 90 Prozent aller Medikamente, die in klinisch getestet werden, kommen nicht auf den Markt. Aber die meisten Wissenschaftler schreiben nicht über negative Resultate, und die meisten Zeitschriften veröffentlichen nichts über Misserfolge.

Woran liegt das?
Wenn man das Konzept der informierten Einwilligung ernst nimmt, muss man dafür Geld und Zeit aufwenden. Aber die Forscher lassen sich die standardisierten Einverständniserklärungen unterschreiben, damit sie selbst vor juristischen Auseinandersetzungen geschützt sind. Diese Unterschriften bedeuten aber noch lange nicht, dass die Teilnehmer auch verstehen, worauf sie sich einlassen. Das beweist schon die Zahl der Abbrecher: In Europa sind es üblicherweise 30 bis 40 Prozent; das belegt immerhin, dass sie von dieser Möglichkeit Kenntnis hatten. Die Abbrecherquote in den Dritten Welt liegt oft nur bei einem Prozent. Das legt nahe, dass sich die Teilnehmer in einer Zwangssituation befinden.

Warum ist es so viel leichter für die Unternehmen, in Ländern wie Indien Teilnehmer für ihre Studien zu finden?
Für viele Menschen ist die Teilnahme der einzige Weg, überhaupt medizinische Versorgung zu erhalten, es ist eine rationale Entscheidung. Das gleiche gilt übrigens auch für viele Ärzte und medizinische Einrichtungen vor Ort. Sie stehen in einem Dilemma: Wenn sie mitmachen, erhalten sie finanzielle Unterstützung, auf diese Art können sie ihren Patienten Behandlungen anbieten, die anders nicht möglich wären.

Welche Größenordnungen haben Medikamentenversuche in Drittweltländern ?
Hersteller wie Merck, GalxoSmithKline oder Wyeth führen mittlerweile nach eigenen Angaben zwischen 30 und 50 Prozent ihrer Tests außerhalb Westeuropas und Nordamerikas durch, und dieser Trend hält an. Sie gehen nach Polen, nach Indien und in manche südamerikanische Länder. Die meisten Tests werden in den Bereichen gemacht, die am profitabelsten sind, zum Beispiel Herzkrankheiten oder Bluthochdruck. Man braucht sehr viele Patienten, um nachzuweisen, dass diese Medikamente wirken - weil ihre Wirkung in Wirklichkeit oft ziemlich gering ist und sich diese Krankheiten über einen sehr langen Zeitraum entwickeln.

Sollten die Richtlinien für medizinische Versuche mit Menschen verschärft werden?
Nein, sie müssen nur besser angewandt werden. Es herrscht in diesem Bereich immer noch eine Laissez-faire-Haltung.

In Ihrem Buch wenden sie sich ziemlich grundsätzlich gegen Tests, bei denen eine Kontrollgruppe nur Placebos verabreicht wird. Aber zu dieser Methode gibt es doch keine Alternative?
Doch, man kann beispielsweise zwei wirksame Medikamente miteinander vergleichen. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Placebo-Kontrolle, es kommt auf die jeweilige Krankheit an. Wenn es beispielsweise um Allergien geht, sehe ich kein ethisches Problem darin, jemandem ein wirksames Medikament für eine kurze Zeit vorzuenthalten. Aber die Menschenversuche in der Dritten Welt beschäftigen sich mit schwerwiegenden Krankheiten, und viele Patienten dort haben einfach keine Möglichkeit, an wirksame Medikamente heranzukommen. In meinem Buch beschreibe ich den Fall einer amerikanischen Firma, die in Sambia ein Mittel gegen Durchfall testete. Bei den extrem geschwächten und teilweise HIV-infizierten Kindern war es eine Frage von Leben und Tod, ob sie das Medikament Nitazoxanid oder nur die Zuckerpille bekamen. Tatsächlich sind viele in der Kontrollgruppe gestorben. In den USA gäbe es einen öffentlichen Aufschrei, wenn man so vorgehen würde, in Afrika ist es möglich.

Was ist Ihr nächstes Projekt?
Ich schreibe ein neues Buch über Malaria. Diese Krankheit ist das beste Beispiel für die falschen Prioritäten, die heute in der internationalen Gesundheitspolitik gesetzt werden. Alle beschweren sich darüber, dass wir immer noch keine Impfung gegen HIV haben; diesen Virus kennen wir seit 1983. Alle reden über neue Epidemien wie die Vogelgrippe und SARS. Aber Malaria existiert seit Urzeiten, und immer noch gibt es 500 Millionen Menschen, die daran erkranken und eine Million Todesopfer jedes Jahr. Dabei ist die Krankheit komplett heilbar.

Das Gespräch führte und übersetzte Matthias Becker

Sonia Shah: Am Menschen getestet! Wie die Pharmaindustrie die Ärmsten der Welt für Medikamententests missbraucht. Mit einem Vorwort von John le Carré. München 2008, Redline Wirtschaft. 306 Seiten, Euro 24,90.

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