Jede Gesellschaft ist eine Mediengesellschaft. Denn Gesellschaften bestehen nur aus ihren Kommunikationen. Und Kommunikationen brauchen Medien, brauchen Sprache, Stimme, Schrift, Grabsteine, Bücher, Bilder, Zeichensysteme, Radios, Zeitungen, kurz: Datenspeicher und Datenüberträger. Insofern nichts Neues im Abend- und Morgenland. Allein, das Abendland nennt seine neueste Verfassung gerne Mediengesellschaft. Und Mediengesellschaft bedeutet wahrscheinlich nur: Jeder hat seine elementare und existentielle Angewiesenheit auf Medien kapiert. Uns dämmert, es gibt kein Leben jenseits der Medienwirklichkeit. Doch was heißt das schon?
Nehmen wir das langweiligste Medienereignis seit Erfindung der Höhlenmalerei: unsere tägliche Tagesschau. In der trockenen Rhetorik des Dokumentarischen wird da der tägliche Werbefilm abgespult. Politik in Gestalt von Politikern, die sich nur deshalb darstellen lassen, weil sie in einem vermeintlichen Zwist mit einem anderen Politiker stehen. Ein paar Skandale, ein paar Kriege, Börsenkurse statt Wirtschaftsnachrichten, und die Einführung des Euro bezaubern uns als logistische Meisterleistung, in der alte gegen neue Geldscheine ausgetauscht werden. Zweifelsohne hat die Tagesschau außerordentlich wenig mit der real existierenden Komplexität am Hut. Sie informiert weitgehend darüber, welche Wirklichkeit wir öffentlich vorkommen lassen, hält auf dem laufenden über das Personal der Wirklichkeitsverwaltung und ihr gerade angesagtes Problemdesign. Das heißt keineswegs, dass Nachrichtenmacher die Realität beobachten, um sie hinterher tüchtig manipulieren zu können. Medien beobachten Medien und nicht Realitäten. Medienprofis gleichen pausenlos ihre Medienfassung der Welt untereinander ab. So entsteht Medienrealität. Und deshalb können die angeblich heftig untereinander konkurrierenden Medien kaum unterschiedlich von der Welt Zeugnis ablegen. Sensationsmeldungen werden nur deshalb welche, weil sie anderenorts aufgegriffen werden, kritische Fragen auch. Der Informationswert der Tagesschau besteht allein in der Herstellung einer Medienrealität für alle Medien und durch alle Medien. Und Medienmacher aller Kragenweite haben keinerlei Interesse über die Konstruktion dieser Medienrealität zu reden. Wie sich am Beispiel der öffentlich-rechtlichen Medien trefflich zeigen lässt, denn dieses Zentralorgan der modernen Mediengesellschaft weigert sich beharrlich, den Realitäten der Mediengesellschaft systematisch nachzuspüren.
Nun, sonntags kann sich der Zuschauer im Anschluss an die Tagesschau den Tatort zu Gemüte führen. Hier geht es böse zur Sache. Die Wirklichkeit wird zum ausgedehnten Kriminalgebiet: Politiker sind meist korrupt, Bosse Betrüger oder Kinderschänder, und das treffliche juste-milieu entpuppt sich als erbärmliche Spießerbande. Der Sheriff des Guten gewinnt keineswegs. In der Regel kann er gerade noch das Schlimmste verhindern. Ein Held, doch einsam und verkracht mit dem hässlichen Lauf der Dinge. Man möchte fast behaupten, der Tatort wäre die blutige Rache der Realität am dürren Gezirpe der Nachrichten. Allerdings sieht das kein Mensch so. Meist ist ein Tatortzuschauer kein Feind der Tagesschau. Der Wert des fiktiven Tatorts liegt in seinem spezifischen Realismus: Wir erkennen die Welt an ihrem Hinken und als Reich übermächtiger Dramen. Wir lieben den geschundenen Kommissar, aber wir spüren nicht seine Kräfte in uns. Die Feinde, mit denen er ringt, kommen in der Realitätsshow der Tagesschau nicht vor. Aber die Tagesschau sagt uns, wieviel und welche gesellschaftliche Wirklichkeit zur politischen Abstimmung vorliegt, und was diese Gesellschaft bereit ist zu verhandeln. Wer darüber hinaus Fragen hat, gerät in Gefahr, wie Schimanski ziemlich oft verprügelt zu werden. Wer dagegen in den Spielräumen der Tagesschau die Welt diskutiert, darf sich als Realist bezeichnen. Die Prügel kriegt er dann anderswo.
Angesichts dieser Erörterung würden einem ausgebufften Nachrichtenredakteur wahrscheinlich Tränen der Empörung über die sonst eher zynisch grauen Wangen kullern. Sein Ethos, sagen wir: seine Sonntagsschwüre kennen nur lautere Abbildungsarbeit. Unvermeidlicherweise gäbe es dabei Auswahl, Beschränkung und Gewichtspolitik, doch beweist sich nicht seine Objektivität darin, dass morgen in allen Konkurrenzorganen das eselige Sätzchen des Politikers X überall zur Schlagzeile erblüht, um übermorgen ebenso kollektiv vergessen zu werden. So ist sie, die Medienrealität: eine routinierte innere Gleichschaltung. Wenn politische Medien aber versuchten, systematisch die Delirien der Politik zu kritisieren, liefen sie Gefahr, selbst als politische Kräfte zu erscheinen. Ihre Lieblingsfiktion und Betriebsgrundlage als Abbildungsmedium geriete in Verdacht und die ganze Konsistenz der Medienrealität ins Schwanken.
Die Politikdarstellung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung divergiert nicht gerade zum Ruhm des vielbesungenen Pluralismus. Das liegt natürlich auch am wenig aufregenden Pluralismus in der politischen Arena selbst. Die wahre Konkurrenz findet neuerdings woanders statt, nämlich innerhalb der Blätter - zwischen Politik und Feuilleton. Nehmen wir die FAZ. Selbstredend war für die Politikredakteure der NATO-Kreuzzug gegen Serbien ein politisch, militärisch und moralisch höchstplausibles Unternehmen. Nicht einmal eine - gelinde gesagt - höchst irritierende Nachrichtenlage hat die ehrbaren Nachrichtenprofis zu leichter Skepsis verleiten können. Doch im Feuilleton derselben Zeitungen fanden sich gleichzeitig die schärfsten und scharfsinnigsten Widerlegungen der politisch gängigen Argumentationen. Hier wurden Nachrichten auf ihre Wirklichkeitspolitik hin untersucht und die bizarren moralischen und politischen NATO-Auffassungen von einer Intelligenz auseinander genommen, die es versteht, die Medienrealität als mediatisierte Sprachregelung zu lesen. Dieser blattinterne Dissenz lässt sich nicht einfach als Aufstand des linken Feuilletons gegen rechte Hofberichterstattung abrechnen. Er trägt vielmehr symptomatische Züge, die sich an vielen anderen Stellen und Themen nachweisen lassen, bei anderen Blättern wie auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Es geht um die enorme Überforderung der Politik und ihrer Medien durch den hochkomplexen Stand der Dinge. Seit geraumer Zeit wird erschreckend deutlich, dass über Menschenrechte und Genmanipulation, dass über Freiheit und Glück, über Liberté, Egalité, Fraternité nicht länger im Stil der täglichen politischen Hanswurstiaden diskutiert werden kann. Politiker lieben ja die Floskel besonders, dass sie gar keinen Gestaltungsraum hätten, die Sachzwänge und so weiter. Mag sein. Doch dann sollten die Medien endlich die Scheinwerfer ausstellen und Schröder, Merkel und Westerwelle im lokalen Anzeigenteil parken, statt den Raum einer plural suchenden Öffentlichkeit zu simulieren. Es wäre natürlich reichlich verwegen zu hoffen, die Politik könnte sich aus der Medienfalle und die politischen Medien könnten sich aus der Politikfalle befreien. Über kurz oder lang wird beiden einfach das Publikum weglaufen, woraus man unweigerlich den Schluss ziehen wird, dass das Politik/Medien-Gebräu noch dümmlicher auftreten müsste. Allerdings wäre es genauso verwegen zu glauben, die kulturellen Medien - um sie der Kürze halber mal so zu nennen - also die Kulturmedien könnten jetzt handstreichartig die sich seit langem auftuende Lücke im öffentlichen Raum besetzen und eine Art intellektueller Gegenöffentlichkeit einrichten. Mit Sicherheit stören sich die allerwenigsten Kultur-Kollegen daran, dass Kunst und Kultur in Zeiten ihrer größten Verbreitung den geringsten Anteil an der Definition von Realitäten haben. Zur Zeit stehen die Rekorde an Virtuosität im direkten Verhältnis zur Harmlosigkeit der Virtuosen. Es ist viel Intelligenz unterwegs, die verlernt hat, ihre Einsatzgebiete zu suchen. Gewiss wird man mir sogleich vorwerfen, ich plante mal wieder die Politisierung der Kultur und so weiter. Doch ich wollte bloß darauf aufmerksam machen, dass das Reale imaginär ist und komplex medial vergesellschaftet. Es wird Zeit, dass sich ein entsprechend geschultes Personal der Sache mal annimmt.
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