Wir sind doch keine Barbaren

Luxus Kultur in Berlin nach dem Karlsruhe-Schock. Anmerkungen zu der Frage, von welcher Kultur wir eigentlich sprechen

Was bedeutet das Urteil von Karlsruhe für die Berliner Kultur? Einstweilen keine Veränderung der Lage: An Kultur, Bildung und Wissenschaft soll, hört man, vorerst nicht weiter gespart werden, jedenfalls nicht mehr, als im bereits 2005 vorgelegten Doppelhaushalt 2005/2006 vorgesehen.

Das ist im Grundsatz zu begrüßen: An Kultur zu sparen, ist erstens schäbig, und zweitens lohnt es sich nicht, da der Kulturetat nur drei Prozent des Berliner Haushalts ausmacht. Drittens sind Kürzungen am Kulturetat undankbar, weil die öffentliche Resonanz erfahrungsgemäß stärker ausfällt, als wenn beim ALG II gekürzt wird. Und viertens gilt das Ausgabenpaket Bildung/Wissenschaft/Kultur als Schlüssel zur wirtschaftlichen Zukunft.

Ist also alles im Lot? Innerhalb der Binnenwelt der Berliner Kulturszene mag das der Fall sein. Wir sehen dann einfach einmal ab von vorhandenen Ungerechtigkeiten, wie sie sich ergeben, wenn die einen vom Staat finanziert werden, die andern nicht, von der Gefräßigkeit der Leuchttürme und den Mühen der nur wenig Geförderten.

Nun hat das Karlsruher Urteil aber ohnehin den Vorteil, dass es keinen Nexus zwischen Sparzwang und Kultureinsparung hergestellt, sondern lediglich Berlin zur Freiheit zwingt, tun zu können, was es will, vorausgesetzt, die Verschuldung bleibe im Verfassungsrahmen. Dieser ist, anders als manche von der PDS glauben, nicht durch einen neoliberalen Ruck der Karlsruher Richter gekennzeichnet, sondern nach wie vor durch die Finanzverfassung der Grundgesetz-Artikel 104a-115, insbesondere des letzten, welcher die Höhe der jährlichen Verschuldung an die der Investitionen bindet. Die Zäsur, die das Karlsruher Urteil darstellt, ist also keine in der Auslegung des Grundgesetzes, sondern in der Wahrnehmung der Lage seitens der Berliner Politik.

Dies sollte erst einmal unstrittig sein. Das heißt: Dissens dürfte erst aufkommen, wo es darum geht, wie man sich zu der in der Berliner Klage stillschweigend enthaltenen Voraussetzung verhält, der nach Artikel 7 geregelte Finanzausgleich müsse im Falle Berlin zu einer Sozialpflicht des Bundes ausgeweitet werden - wenn der Bund also zu einer ALG-Anstalt der Landespolitiker gemacht werden soll. Man muss nicht mit dem Egoismus des Landes Bayern sympathisieren, um einzusehen, dass schon das bestehende System des Finanzausgleichs längst kontraproduktiv wirkt, weil es die finanzschwächeren Länder dazu ermuntert, nichts zu tun, um dank der Notlage im Ausgleich mehr einzunehmen.

Die Karlsruher Entscheidung ist für Berlin aber auch schon deshalb positiv, weil sie Berlin dazu zwingt, auf das Finanzgebaren der letzten 15 Jahre zurückzuschauen und den selbstgemachten Schuldenanteil anzugehen: die unterlassene Personalpolitik, die in den diversen Abenteuern der Stadtentwicklung getätigten Fehlallokationen, die Beteiligung des Landes an extrem fragwürdigen Verkehrsprojekten des Bundes, von der Bankgesellschaft einmal abgesehen. Das Urteil stellt vor allem die bisher angewandten Kriterien des Unverzichtbaren auf den Prüfstand. Es geht nicht um die Kulturstadt Berlin, es geht, im Rahmen der Vergleichbarkeit mit Hamburg und Bremen, um die Pflicht der Landespolitik. Wo ist Berlin als Land unbedingt in der Pflicht und wo nicht?

Da lässt es sich nun kaum übersehen, dass im Argument vom unverzichtbaren kulturellen Gesamtpaket ein Knick ist. Und zwar in der als selbstverständlich vorausgesetzten Kopplung von Bildung, Wissenschaft und Kultur. Wenn es hart auf hart kommt, dann ist klar, dass es hier ein Gefälle gibt. Bildungsausgaben sind unverzichtbar, sie sind die wichtigste Investition überhaupt, weil sie der entscheidende Beitrag sind, der von oben her zum gesellschaftlichen Zusammenhang, zu Integration und Teilnahmechancen aller, geleistet werden kann. An zweiter Stelle folgen Hochschulen und Wissenschaft. Denn hierüber werden Intelligenzen von anderswo her angeworben und die Grundlagen der Stadt von morgen gelegt.

Wie steht es dem gegenüber mit den Kulturausgaben? Wir sind keine Barbaren, Kultur ist, Hand aufs Herz, unverzichtbar. Aber erstens wird an ihr nur so gerne gekürzt, weil die, die darüber entscheiden, zu dieser Kultur selbst längst kein inneres Verhältnis mehr haben. Die Mehrzahl der Wähler stillt ja ihr Kulturbedürfnis auch nicht bei den Philharmonikern oder im Deutschen Theater, sondern über Pop-Kultur, Kino, Kleinbühnen, also im kommerziellen Sektor, und zahlt dafür den Gestehungspreis, sonst gäbe es diesen Sektor gar nicht. Öffentlich bezahlte Hochkultur ist ein Minderheitenproblem. Die Forderung, die Bürger sollten gefälligst ihre Kultur selber bezahlen, greift aber auch nicht so recht, weil sie offen läßt, wer denn zahlt, wenn der letzte Bildungsbürger gestorben ist.

Zweitens, und vor allem, hat man aber, wenn man die Unverzichtbarkeit der Kultur betont, stillschweigend die Ebene gewechselt. Denn wenn mir Kultur wirklich wichtig ist, dann lasse ich sie mir etwas kosten, und meine erste Frage ist nicht, ob sie mir denn auch mehrheitlich über Steuern bezahlt werde. Jedenfalls redet man dann nicht wirtschaftspolitisch, sondern von sich selbst.

Im Vergleich damit wirken alle politisch gängigen Begründungen dafür, dass Kultur selbstverständlich öffentlich finanziert werden müsse - als Außendarstellung Berlins, Standortpolitik, Tourismuswerbung -, ausgesprochen nachgereicht. Sie funktionieren unter der Bedingung, dass man sich auf den Standpunkt der Wirtschaftsförderung stellt, die den Beitrag des öffentlichen Sektors zum Gedeihen der lokalen Kulturwirtschaft im Auge hat, ein Beitrag, der laut erstem Senatsbericht zur Kulturwirtschaft von 2005 immerhin elf Prozent des Berliner Bruttoinlandsprodukts ausmacht.

Verabschieden wir uns also von dem Gedanken, Kultur sei das, was gerade nicht in Euro aufzuwiegen ist? Es läge dann nahe, die öffentliche Kulturförderung der Wirtschaftsförderung einzugliedern und ihr damit ein langes Leben zu wünschen. Aber damit hätten wir sie auch gründlicher verraten, als wenn jetzt jedes zweite Orchester, jedes dritte Theater und zwei der drei landeseigenen Opern geschlossen würden. Kultur ist, altmodisch betrachtet, gerade der Ort, wo es nicht um Wirtschaftswachstum geht, sondern um Genuss und Selbstverständigung.

Aber gerade deshalb, wird gesagt, muss sie ja öffentlich finanziert werden. Gegenfrage: Muss sie wirklich? Natürlich wäre es sinnlos zu sagen, das Land Berlin oder der Bund dürfe das nicht. Aber die Landesträgerschaft ergibt sich keineswegs zwingend aus dem kollektiven Bedarf der Berliner an Kultur. Tatsache ist, dass wir daran gewöhnt sind. Die Verhältnisse in der Schweiz oder in den USA beweisen zumindest, dass die öffentliche Finanzierung keine Selbstverständlichkeit ist. Dass es diesen Bereich der Hochkultur gibt, und dass er, staatlich finanziert, weitgehend von der Zustimmung des zahlenden Publikums befreit ist, ist in der Tat das Ergebnis eines national recht besonderen historischen Ablösungsprozesses, in welchem der demokratische Staat einst genötigt war, sich die kulturelle Funktion der abtretenden Fürsten aufzuladen. Diejenige Kultur, die im Zentrum öffentlicher Förderung steht und das meiste Geld des Kulturetats verbraucht, ist deshalb nicht zufällig die Kultur untergegangener Gesellschaften und Sozialschichten.

Das historische Argument eröffnet jedenfalls eine Aussicht auf die Vergänglichkeit aller Lösungen des Problems, wer Kultur finanziert. Das Land Berlin hat nun leider nicht einmal mehr die Möglichkeit, die Kulturzuständigkeit ausreichend zwischen den Ebenen Staat und Stadt abzuschichten. Beispielsweise lag die Existenzberechtigung der Bismarckstraßenoper einst darin, dass sie die Oper der Stadt Berlin war, im Gegensatz zur Hof- und Staatsoper Unter den Linden. Heute ist es die Frage, wie viele Opern, Orchester, Theater nebeneinander sinnvoll und möglich sind, so wie man fragen könnte, ob Berlin mehr als 20 Einkaufszentren verkraftet.

Das Land hilft sich, indem es eine Einrichtung nach der anderen dem Bund anzuhängen versucht. Das heißt, weder wagt man, angesichts der Schulden sich dennoch selbstbewusst zu kulturellem Luxus zu bekennen, noch traut man sich, die Frage, wer für die Kosten von Kultur aufkommt, an die Konsumenten weiterzugeben, was vielleicht schmerzliche Verluste brächte, aber auch einen heilsamen Prozess der Abspeckung der Apparate, Gagen, Gehälter in Gang brächte. Stattdessen wird die Ebene der Umverteilung gewechselt - es sollen nun noch mehr Unbeteiligte, die bundesdeutschen Steuerzahler, die Berliner Kulturlast tragen.

Nun ist aber doch immer noch die Frage, von welcher Kultur wir eigentlich reden. Offensichtlich ist die Sache längst in Stücke zerfallen, die wie selbstständige Kontinente auseinander driften. Wenn nicht Kulturwirtschaft, dann bleiben die weiten Bereiche von staats- wie wirtschaftsferner Kulturpraxis: die unendlich vielgestaltige Kulturtätigkeit der Einzelnen, von der Blockflöte bis zur Kreativität im Internet; die ästhetische Produktivität, die weder in den öffentlichen Sektor noch im privaten Markt Platz und Echo findet; Berliner Kultur auf dem Land und in kleinen Städten, die das Vakuum überbrückt, welches die wegfallenden Arbeitsplätze hinterlassen: die von Kirchengemeinden, Vereinen, Stiftungen getragene Kultur, und so weiter.

Im Vergleich zu diesem riesigen Feld weist der öffentlich bezahlte Kulturbetrieb, in eins mit seinem Publikum, weitgehend ein Maß an Selbstbezüglichkeit und Selbstgefälligkeit auf, dass man ihm durchaus ein bisschen mehr Haftung an den Lebensbedingungen und Wahrnehmungsweisen der Mehrheitsgesellschaft wünschte. Gibt es noch ein vernünftiges Verhältnis zwischen dem Anteil am Kulturetat, der in die großen Apparate mit ihren luxurierenden Strukturen geht, und dem, was ästhetisch, Kultur im anspruchsvollen Sinne produzierend, dabei herauskommt? Und schließlich: Könnte nicht doch etwas dran sein an unserem, der Altachtundsechziger, Vorurteil aus den siebziger und achtziger Jahren, dass die eigentlich spannenden Sachen dort passieren, wo kein Geld ist, und in Formaten, auf die noch keine Förderung gefasst ist?

Wie immer man diese Fragen aber beantworten mag, das Verhältnis von Kultur und öffentlichen Geldern ist zu komplex, als dass es statthaft wäre, eine unmittelbare Beziehung zwischen verordneter Sparsamkeit und Kulturverlust herzustellen. Wer das tut, verwechselt etwas, oder er hat etwas zu verbergen.

Dieter Hoffmann-Axthelm, geboren 1940, lebt als freier Stadtplaner und Publizist in Berlin. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Ästhetik Zuletzt erschienen von ihm 2004 der Band: Lokale Selbstverwaltung. Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie und 2005 Der Große Jüdenhof. Ein Berliner Ort und das Verhältnis von Juden und Christen in der deutschen Stadt des Mittelalters. In Vorbereitung: Flächenkosten und kommunale Finanzdemokratie. Ein Vorschlag zur Heilung der Haushaltskrise.


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