Wir sind keine Nein-Sager mit plattem Pathos

PDS-intern Der stellvertretende PDS-Vorsitzende Diether Dehm über die informelle Macht der Hinterzimmer, Sündenfälle und den Charme der neuen linken Sammlungsbewegungen

Thüringen ist offenbar ein heißes Pflaster. Vor mehr als 100 Jahren die berühmten Parteitage der Sozialdemokraten in Eisenach, Gotha und Erfurt. Im Oktober 2002 der PDS-Parteitag in Gera. Für die demokratischen Sozialisten ist Gera mittlerweile zum Synonym geworden. Nur für was? Für die Bereitschaft, nach der verlorenen Bundestagswahl "sich selbst in die Isolierung zu begeben", wie Gregor Gysi meint (Freitag vom 9. Mai 2003)? Oder für die "Rückbesinnung auf Oppositions- und Widerstandspolitik", wie Sahra Wagenknecht betont (Freitag vom 16. Mai 2003)? Im Vorfeld des Sonderparteitages der PDS, der sich am 28./29. Juni mit der aktuellen Krise der Partei beschäftigen wird, analysieren Diether Dehm, Gerry Woop und Gabi Zimmer, weshalb es zu heftigen Auseinandersetzungen kam und wie es weitergehen könnte.

FREITAG: Während Schröder mit seiner "Agenda 2010" einen umfassenden Angriff auf den Sozialstaat formuliert, verliert sich die PDS in einer Führungskrise. Wie erklären Sie das der Partei und ihren Wählern, die nicht absurden Streit, sondern aktiven Widerstand gegen die Politik der Bundesregierung erwarten?
DIETER DEHM: Was als Führungskrise erscheint, mag man - von außen betrachtet - in der Tat als absurd bezeichnen. Aber man muss wissen, worum es eigentlich geht. Gegenüber Gabi Zimmer hat sich der nach der verlorenen Bundestagswahl neu gewählte Parteivorstand in allen wichtigen Fragen loyal verhalten. Dass dann ein eher nebensächlicher Geschäftsordnungsbeschluss, nämlich die kurzfristig verschobene Diskussion eines theoretisierenden Programm-Papiers, zu einem Rücktrittsgrund hochstilisiert wurde, zeigt: Dieser Parteivorstand sollte eigentlich nie eine Chance bekommen. Ich erinnere an das Schreiben von Gregor Gysi an Mitglieder und Medien einen Tag nach Gera, in dem er sowohl den Parteivorstand als auch die Delegierten, die ihn gewählt hatten, für unfähig erklärte. Danach erschienen in Gera beschlossene Inhalte und gewählte Vorstandsmitglieder als zum Abschuss freigegeben. In diesem Sinne wirkten Spitzenfunktionäre regional, intern und mittels Medienmunitionierung. Selbst Publikationen von Bundesgeschäftsführer Uwe Hiksch und des gewerkschaftspolitischen Sprechers Harald Werner zum 1. Mai und gegen die "Agenda 2010" wurden nicht oder zunächst nicht überall weitergegeben. Zusätzlich hatte dieser Parteivorstand natürlich auch seine hausgemachten Schwächen.

War nicht schon der Parteitag in Gera, der unmittelbar nach der verlorenen Bundestagswahl stattfand, eine absurde Veranstaltung, weil danach fast sämtliche, auch bundesweit bekannte Mandatsträger der Partei nicht mehr im Vorstand vertreten waren?
Sie haben völlig recht. Ich habe sogar mehrfach, wenn auch vergeblich, vor und in Gera Roland Claus und andere sogenannte Reformer gebeten, als Bundesgeschäftsführer zu kandidieren. Schließlich musste Uwe Hiksch einspringen - auch auf Wunsch Gabi Zimmers. Verweigerung ist kein sonderlich demokratietaugliches Verhalten. Besonders weil einige gar nicht abwarten konnten, bis der neu gewählte Parteivorstand gegen die Wand fährt. Das war unverantwortlich.

Wie erklären Sie sich diese Verweigerung?

Vielleicht hat die PDS an der Spitze wie auch in der Breite einfach nicht die notwendige Reife, um mit dem Spagat zwischen Mitregieren und Widerstand konstruktiv umzugehen.
Die Mehrheit der Linksparteien in Europa ist an dem Versuch katastrophal gescheitert, intelligent mitzuregieren und gleichzeitig widerständig und gesellschaftlich oppositionell zu bleiben. Es gibt mittlerweile aber auch ermutigende Beispiele wie Rifondazione Comunista in Italien, die Izquierda Unida in Spanien, die jetzt Sammlungsbewegungen werden, wo die Frage, ob jemand in der Vergangenheit moskautreuer Kommunist oder Trotzkist oder linker Sozialdemokrat war, niemanden mehr ausgrenzt - Pluralität, die bei den Wählern ankommt. Und nicht zu vergessen die Sozialistische Partei der Niederlande. Sie wirkt in den sozialen Brennpunkten und nicht zuerst in den bürgerlichen Medien. Das sollte die PDS aufnehmen.

Nun wird gerade Ihnen und dem Bundesgeschäftsführer Uwe Hiksch vorgeworfen, Pluralität nicht hinreichend zu respektieren.
Wie gelegentlich von der Gruppe um Dehm und Hiksch gesprochen wird, erinnert manchen an frühere KP-Ausgrenzungen. Einigen fällt es offenbar immer noch schwer, die eigene Widerstandskultur von West-Genossinnen und Genossen zu akzeptieren, die diesen realen Kapitalismus jahrzehntelang erfahren haben. Dabei sind wir linken Sozialdemokraten, die zur PDS gekommen sind, wirklich nicht die Nein-Sager mit Revolutionsträumen, wie uns das Gysi in Spiegel, Stern und Bild mehrfach vorwarf. Ich selbst habe in der SPD 30 Jahre lang Reformpolitik betrieben, selbst in kleinsten Schritten. Nur so konnte ich jetzt bei der Oberbürgermeisterwahl in Lörrach mit der PDS über 17 Prozent erzielen. Und meine Zusammenarbeit mit Konstantin Wecker, Jean Ziegler und anderen ist natürlich nicht nur für antikapitalistische Fernziele hilfreich, sondern auch für ein Reformklima.

Mit welchen Empfehlungen werden Sie sich an die Delegierten des Sonderparteitags Ende Juni wenden?
Vom Parteitag sollte auf jeden Fall ein deutliches Signal ausgehen: besonders an die Verbitterten, die vom Sozialkahlschlag des Kanzlers betroffen sind. Gelegentlich höre ich auch bei uns das törichte Gerede von der progressiven Entstaatlichung, einer Mehrwertsteuererhöhung oder - wie im aktuellen Leitantrag - von privaten Sicherungssystemen und einer Erhöhung von Verbraucher-Steuern. Aber keine zivile Gesellschaft der Welt kann auffangen, was bei einem zerstörten Sozialstaat verloren geht. Deshalb sollten die Signale an die Betroffenen der Krise, an die Gewerkschaften und gegen die Profiteure des Neoliberalismus klar und eindeutig sein. In der Programmdebatte muss besonders die Perspektive des Grundgesetzartikels 15, die Sozialisierungsoption von Eigentum und damit die Vergesellschaftung von Konzernen und Großbanken, ohne Tabus erhalten bleiben, selbst wenn die Linke im Moment nicht die Kraft hat, auch nur einen Teil davon durchzusetzen. Darüber hinaus brauchen wir einen plural zusammengesetzten Parteivorstand, im Sinne des PDS-Gründungskonsenses. Wer radikalere Antikapitalisten herausdrängt, lässt die PDS unweigerlich zu einer provinziellen Partei verkümmern. Wir haben im Jahr vor Gera nicht nur Wahlen, sondern im Osten auch über zehn Prozent Mitglieder verloren, dagegen im Westen leicht zugelegt. Wenn staatstragende Selbstgefälligkeit den außerparlamentarischen Protest einengt, werden wir kein Partner für junge, radikalere Anti-Kriegs- und Globalisierungs-Bewegte. Deshalb ist Pluralität ein Eigenwert. Und die sollte sich nicht mehr an der Parole "Reinheit vor Einheit" orientieren, sondern an Rosa Luxemburg: "Freiheit in der Diskussion, Einheit in der Aktion".

Glauben Sie, dass Lothar Bisky das Format hat, um nicht nur die Wogen zu glätten, sondern auch um eine Perspektive nach vorn zu formulieren?
In der letzten Pressekonferenz hat Lothar Bisky Fragen nach einer eventuellen Ausgrenzung dezidiert antikapitalistischer Exponenten souverän abperlen lassen. Ich kenne ihn persönlich aus gemeinsamen Urlaubstagen, aber vor allem war ich ja zwei Jahre sein Stellvertreter. Er hat die notwendige integrative Kraft. Wenn er von Talk-Meistern und deren informellen Zirkeln nicht in eine ähnliche Bedrängnis gebracht wird, wie seine Vorgängerin, wenn also gewählte Gremien und nicht das eine oder andere Hinterzimmer die Politik der PDS formulieren, dann bin ich sicher, dass wir auch die anstehenden Landtagswahlen und den Europawahlkampf 2004 erfolgreich bestehen und in sozialen Bewegungen neue Kraft gewinnen.

Das Gespräch führte Hans Thie

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