Für den 21. Oktober hat der DGB zu Großdemonstrationen in Berlin, Dortmund, München, Stuttgart und Frankfurt/Main aufgerufen, um gegen die Politik der großen Koalition zu protestieren. Die Ziele des Aktionstages und die darüber hinaus gehenden strategischen Optionen der Gewerkschaften schildert Hans-Jürgen Urban, Leiter des Bereichs Gesellschaftspolitik / Grundsatzfragen der IG Metall.
FREITAG: Mit Protesten gegen die große Koalition haben sich die Gewerkschaften bisher zurück gehalten. Wird das am 21. Oktober anders?
HANS-JÜRGEN URBAN: Mit unserem Aktionstag, mit fünf hoffentlich großen Demonstrationen, fordern wir einen grundsätzlichen Politikwechsel, nicht Detailkorrekturen in der einen oder anderen Richtung. Statt Sozialstaat und Arbeitnehmerrechte als Ballast zu verdammen, sollten sie als Quelle von Innovation und sozialer Gerechtigkeit wieder anerkannt werden. Diesen Protest und die dazu erforderliche Aufklärungsarbeit wollen wir organisieren.
Fordern Sie, um ein Beispiel zu nennen, die komplette Abschaffung von Hartz IV?
Wir fordern eine generelle Neuordnung des Arbeitsmarktes. Die Abstrafung von Arbeitslosen durch Kürzung von Sozialleistungen muss beendet und ein öffentlicher Beschäftigungssektor geschaffen werden, in dem die Menschen zu sozial geschützten und tariflichen Bedingungen Arbeit finden. Statt die Grenzen der Zumutbarkeit immer weiter abzusenken und Arbeitslose permanent zu drangsalieren, sollte über Mindeststandards, über individuell einklagbare Rechte und schließlich auch über einen Mindestlohn diskutiert werden, um dann auch entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Das mag Anklang finden, aber ändert wenig an der strategischen Defensive der Gewerkschaften. Der Anteil traditioneller, gut organisierbarer Arbeiterschaft wird immer kleiner. Anhaltende Arbeitslosigkeit erzeugt permanenten Lohndruck. Die Politik definiert Arbeitskosten fast unisono als deutsches Zentralproblem. Was kann eine Gewerkschaft wie die IG Metall tun, um aus der Defensive herauszukommen?
In diesen Fragen ist sorgfältig zu unterscheiden: zwischen den negativen politischen Trends der letzten Jahre, die man aufhalten und umkehren kann und sollte, und den weltwirtschaftlichen und sozialstrukturellen Veränderungen, die irreversibel sind und auf die man strategisch richtige Antworten finden muss. Wenn neue Formen qualifizierter Lohnarbeit entstehen, wenn der Anteil der Dienstleistungstätigkeiten zunimmt, wenn sich entsprechend die Belegschaften verändern, müssen Gewerkschaften darauf reagieren und sich in den Sphären verankern, die heute zu wirtschaftlichen Leitsektoren geworden sind. Bislang sind wir etwa in den Industrien der Informationstechnologie, im gesamten Software-Bereich und teilweise auch bei den hochqualifizierten Beschäftigten in den traditionellen Sektoren des Automobil- und Maschinenbaus unterrepräsentiert.
Nicht zuletzt wird Ihre Arbeit schwieriger, weil sie mit der Drohung von Unternehmen rechnen müssen, Standorte ins Ausland zu verlagern.
Die Abwanderungsdrohung der Unternehmen ist gegenwärtig das Kardinalproblem gewerkschaftlicher Interessenpolitik. Es fällt den Gewerkschaften in der Tat nicht leicht, darauf zu antworten. Aber hilflos sind wir keineswegs. Wichtig ist zunächst, den Realitätsgehalt der jeweiligen Verlagerungsdrohung einschätzen zu können. Ist sie reale Option oder ein taktisches Erpressungsinstrument? Oft fehlen den Betriebsräten die Informationen, um dies beurteilen zu können. Auch deshalb ist eine systematische Kommunikation zwischen den Interessenvertretungen der nationalen und internationalen Standorte erforderlich. Zweitens haben wir als IG Metall gefordert, Dumping-Verlagerungen betriebswirtschaftlich möglichst unattraktiv zu machen. Es ist gänzlich inakzeptabel, dass Unternehmen schon kleinste Unterschiede in den Arbeits- und Sozialkosten für einen Standortwechsel nutzen und der Gesellschaft alle sozialen Folgekosten - etwa in Form von Arbeitslosigkeit oder Steuerausfällen - aufbürden. Deshalb fordern wir eine Verlagerungsabgabe, die solche Verlagerungen erschwert oder zumindest dafür sorgt, dass die betroffenen Unternehmen sich finanziell an der Bewältigung der Folgeschäden, etwa in Form von Ersatzarbeitsplätzen, beteiligen.
Gibt es bei Ihnen Stimmen, die jede Verlagerung prinzipiell ablehnen?
Nein, Standortnationalismus ist nicht unsere Position. Dass alles im eigenen Land bleiben muss, haben wir früher nicht gesagt, und das gilt auch heute. Es gibt ein berechtigtes Entwicklungs- und Aufholinteresse von Menschen in anderen Regionen der Welt, das müssen und wollen wir anerkennen. Wichtig ist, dass die Interessen aller Beteiligten gewahrt werden, sowohl der Betroffenen an den deutschen Standorten, als auch derjenigen, die an anderen Standorten auf Investitionen hoffen. Es gibt durchaus sinnvolle Ausgleichsmaßnahmen. Wir sind zum Beispiel der Auffassung, dass neben der Verlagerungsabgabe auch Verlagerungsabsprachen eine größere Rolle spielen sollten. Wenn es zum Beispiel um Projekte geht, die der Markterschließung in anderen Ländern dienen, dann können auch Gewerkschaften diesen Investitionen zustimmen. Aber bitte konditioniert, das heißt verbunden mit der Zusage, dass an den neuen Standorten Gewerkschaftsrechte, Koalitionsfreiheit und Sozialstandards garantiert und Ersatzarbeitsplätze für diejenigen geschaffen werden, die an den alten Standorten sonst die Verlierer wären.
Verlierer sind nicht ausschließlich, aber doch mehrheitlich weniger qualifizierte Menschen, die dann in der Bundesrepublik keinen Job mehr finden. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?
Es wird auch in der Hightech-Industrie und in der Dienstleistungsökonomie Arbeitsplätze für Menschen mit geringerer Qualifikation geben. Aber richtig ist, dass die Gesellschaft viel mehr für Bildung und Qualifizierung tun muss. Aber das wird nicht reichen, der so genannte Erste Arbeitsmarkt wird nicht alle Arbeitsuchenden aufnehmen. Daraus folgt: Ohne den systematischen Ausbau eines Sektors öffentlich geförderter Beschäftigung werden bestimmte Bevölkerungsgruppen keine Chance haben. Die Gesellschaft muss sich entscheiden: Will sie Millionen in die Arbeitslosigkeit, ins Abseits drängen, marginalisieren und womöglich auch noch in der Alltagskultur diskriminieren oder will sie das Problem anerkennen und offensiv darauf reagieren. Wir bevorzugen, dass Menschen entsprechend ihrer Qualifikation ihren Beitrag leisten, also Arbeit und Auskommen finden und an der gesellschaftlichen Wertschöpfung teilnehmen können.
Für diese Agenda haben Sie aber kaum noch politische Ansprechpartner. CDU und FDP kann man aus Ihrer Sicht weitgehend vergessen. SPD und Grüne haben ihre früheren Standards aufgegeben. Die Linke unterstützt zwar viele gewerkschaftliche Forderungen, ist aber sowohl in der Politik als auch in der öffentlichen Debatte nicht so präsent, dass sie Großes bewirken könnte. Wer bleibt da noch?
In der Tat ist es für die Gewerkschaften schwieriger geworden, in den politischen Arenen Einfluss zu gewinnen. Ich denke, zwei strategische Schlüsselaufgaben sind zu bewältigen. Erstens ist eine Gewerkschaft politisch nur so stark, wie sie in ihren Kernfeldern, nämlich in der Betriebs- und Tarifpolitik, erfolgreich ist. Will sagen: Wenn die Gewerkschaften in ihren zentralen Funktionen an Macht verlieren, wenn sie in den Betrieben Organisationskraft und in tariflichen Verteilungskämpfen an Durchsetzungskraft einbüßen, werden sie auch gegenüber den politischen Parteien an Einfluss verlieren. Zweitens ist richtig, dass es auf absehbare Zeit keine natürliche Bindung zu einer Partei geben wird, dass es deswegen immer schwieriger ist, über die klassischen Lobby-Kanäle Einfluss zu gewinnen. Was wir gegenwärtig brauchen, würde ich einen flexiblen parteipolitischen Pragmatismus nennen. Es wird zunehmend so sein, dass wir von Fall zu Fall und vor allem orientiert an Sachfragen Bündnispartner finden müssen, mit denen wir versuchen, unsere Positionen durchzusetzen.
Im Mai 2004 haben die Gewerkschaften gemeinsam mit Attac und anderen, in der Vergangenheit eher gewerkschaftsfernen Organisationen einen Perspektivenkongress veranstaltet. Kann man mit Bündnissen neuer Art mehr Resonanz finden?
Das politische System, also die Parteien und die Entscheidungsprozesse in den Parlamenten, haben sich immer stärker von der Gesellschaft abgeschottet. Nehmen Sie die letzte Bundestagswahl. Die Mehrheit wollte einen Wechsel hin zu einer solidarischeren Politik. Schröders Agenda 2010 wurde abgewählt, und Frau Merkel ist mit ihren noch markradikaleren Konzepten ebenfalls abgestraft worden. Und trotzdem taten sich die Wahlverlierer zusammen und setzen mit der Agenda-2010-Politik einen Kurs fort, den die Mehrheit der Menschen nicht will. Die Akteure des politischen Systems ignorieren den Wählerwillen. Dadurch verliert das gesamte politische System allmählich an Akzeptanz. Um das zu korrigieren, ist eine Aktivierung der Zivilgesellschaft unabdingbar. Hier sind die Gewerkschaften, aber auch andere Organisationen, soziale Bewegungen und Initiativen gefragt. Das erfordert in der Tat Bündnisse neuer Art, so unterschiedlich die Kulturen und Traditionen der Akteure auch sein mögen.
Um das zu befördern, wären die Gewerkschaften gut beraten, etwas frecher, vielleicht etwas französischer zu werden. Oder halten Sie das angesichts deutscher Kulturtraditionen für ausgeschlossen?
Auf der Betriebsebene, ob bei der AEG, bei Grohe oder bei Otis, wurden viele Kämpfe sehr phantasievoll geführt. Die Vorstellung, dass die deutsche Arbeiterbewegung nur mit preußischer Disziplin und eingeübten Ritualen handeln kann, stimmt längst nicht mehr - sollte sie je gestimmt haben. Sowohl in den Tarifauseinandersetzungen als auch in den Betrieben hat sich in den vergangenen Jahren eine bunte Kultur des Widerstands, der Mobilisierung und der Interessenvertretung herausgebildet. Diese neue Kultur ist sehr viel vernetzter mit den Kirchen, mit der Kommunalpolitik, mit Sozialverbänden und anderen als das oftmals wahrgenommen wird.
Wenn man an das vielzitierte Phänomen der Heuschrecken denkt, wenn Gewerkschafter hautnah erleben, wie funktionierende Unternehmen in Einzelteile zerlegt und verkauft werden, kommt dann bei Ihnen manchmal der Gedanke auf, dass man auf die Herren, die den Verwertungsstandpunkt vertreten, eigentlich ganz verzichten und besser in eigener Regie weitermachen sollte?
Ein reiner Eigentümerwechsel würde die Probleme im neuen Finanzmarktkapitalismus nicht lösen. Selbstverwaltete Betriebe würden auch unter der Knute der maßlosen Renditeforderungen zu leiden haben, die sich allmählich als allgemeine Spielregeln des Marktes etablieren. Deshalb kommt es darauf an, die Kapitalmärkte wieder zu regulieren und zu bändigen, die Spielregeln der Ökonomie zu ändern, damit die Realwirtschaft nicht erdrückt wird und Freiräume für eine alternative Wirtschaftspolitik entstehen. Kapitalmärkte sollten sich auf die Funktion beschränken, die ihnen legitimer Weise zukommt, nämlich Liquidität für die Finanzierung von Innovationen und Investitionen bereitzustellen.
Über Re-Regulierung wird in der ganzen Welt diskutiert, nur in der Bundesrepublik nicht.
Münteferings Heuschrecken-Kampagne war leider nur ein Wahlkampfmanöver. Aber ich hoffe, dass dieses brennende Thema in der Debatte bleibt. Die IG Metall hat sich dieses Themas in den vergangenen Monaten verstärkt angenommen. Und das durchaus mit Resonanz in den Betrieben. Die Beschäftigten spüren alltäglich, welcher Druck ausgeübt wird, wenn ein neuer Eigentümer, der nur an schnellem Cash interessiert ist, einen Betrieb übernimmt. Das ist dann keine abstrakte Diskussion, sondern harte Lebenswirklichkeit. Was darüber hinaus der neue Finanzkapitalismus für die Mitbestimmung, für die Tarifpolitik, für Verteilungskämpfe bedeutet, ist noch längst nicht in seiner ganzen Dimension erkannt, auch in der Wissenschaft nicht. Dennoch bin ich ganz optimistisch, dass die Sackgassen, für die symbolisch der Begriff Heuschrecken steht, erkannt werden und diejenigen, die ein grundsätzlich anderes Entwicklungsmodell für Deutschland und für Europa politisch vorantreiben wollen, stärker werden.
Das Gespräch führte Hans Thie
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