GÜNTER GAUS: Ende der siebziger Jahre haben Sie die DDR verlassen und sind zur Theaterarbeit in den Westen gegangen. Was empfanden Sie damals als andauernde Gemeinsamkeiten zwischen den getrennt lebenden Deutschen?
ADOLF DRESEN: Es ging mir seinerzeit weniger um den einheitlichen Nationalstaat, sondern um eine gemeinsame deutsche Nationalkultur. Ich habe dann im Westen - beispielsweise als ich in Frankfurt war - das auf meine Fahnen geschrieben. Es gab ja immer den Widerspruch in der deutschen Geschichte - Deutschland, wo liegt das, wo ist es zu finden?
Noch einmal gefragt, gab es Ende der siebziger Jahre nach Ihrem Eindruck zwischen den Deutschen Ost und den Deutschen West noch durchgehende Gemeinsamkeiten?
Am Theater gab es natürlich heftige Gemeinsamkeiten, die hatten sich in West und Ost nicht verloren. Das heißt, Gemeinsamkeiten waren auf einer Probebühne sehr viel leichter zu erkennen als auf der Straße - dort war das natürlich vollkommen anders, vor allem die Probleme der Menschen im Westen waren andere ...
Welche Probleme meinen Sie?
Ich geriet in eine Situation, da im Westen die Linke noch sehr stark war. Frankfurt galt als so etwas wie ein linker Leuchtturm. Meine Differenzen zu diesen Linken ergaben sich vor allem deshalb, weil die viel dogmatischer waren als ich. Die haben die DDR idealisiert - eine der ersten Fragen, denen ich im Westen begegnete, lautete: Was halten Sie von der Mehrwerttheorie? Dazu hatte ich schon eine Meinung, stellte aber fest, die Frager kannten die Mehrwerttheorie gar nicht. Ich griff hinter mich, nahm Band eins des »Kapitals« und habe erst einmal erklärt, was gemeint war. Aber am Theater war es sehr schwer, dieser Linken zu widersprechen. Da durfte man nicht sagen: Ach, ich finde Kohl ganz gut. Man hatte auch links zu sein ...
Wo ist diese Linke im Westen geblieben?
Ja, das habe ich mich oft auch gefragt, wo sind die geblieben? Manche habe ich wieder getroffen, die gibt es tatsächlich noch ...
Haben Sie die erkannt?
Ja - aber dadurch blieb erst recht die Frage, wo ist diese starke, und manchmal auch ein bisschen terroristische Linke, die nicht sehr tolerant war - wo ist sie nun eigentlich geblieben. Diese Frage hängt auch damit zusammen, wie diese Linke einmal konstituiert war, sie stand auf keinem sehr sicheren Boden.
Der deutsche Einheitsstaat wird zehn Jahr - weshalb steht die sogenannte innere Einheit zwischen West und Ost nach wie vor aus?
Ein Grund dafür ist vielleicht, dass die Linke im Westen lange Zeit so geredet hat, als wäre die DDR ihr Ideal. Und es war sehr kompliziert, ihnen da zu widersprechen und zu sagen: Die DDR ist außerordentlich kritikbedürftig. Im Osten wiederum gab es sehr viele Leute, gerade auch unter den Künstlern, die wollten die DDR und nicht den Westen, aber sie wollten eben eine bessere DDR.
Aber das sind ja doch Minderheiten, die Sie jetzt beschreiben - die Frage ist doch, warum hat sich die innere Einheit zwischen den west- und ostdeutschen Mehrheiten nicht gebildet?
Weil die Einheit irgendwie auch eine Enttäuschung brachte und zwar für beiden Seiten. Im Osten gab es diese unangenehmen Sprüche, die seinerzeit in Leipzig aufgekommen sind: »Helmut nimm uns an der Hand, führe uns ins Wirtschaftswunderland ...« - Solche bösen Sachen - und das Wirtschaftswunderland kam auch, in Form von Arbeitslosigkeit und einer Zerstörung der ostdeutschen Industrie. Und im Westen sah man plötzlich, ach ja, da ist ein riesiges Subventionsgebiet im Osten, und dann sie die auch noch gegen uns und kennen keine Dankbarkeit.
Außerdem ist mit dem Zusammenbruch des Ostens noch etwas Furchtbares passiert: Es verschwand die ganze Kritik am Kapitalismus, die vorher massiv vorhanden war. Aber nichts braucht der Kapitalismus mehr als Kritik - er braucht sie auch, um zu prosperieren. Wenn ihm die Opposition abhanden kommt, geht er glatt unter, aus Dummheit - und ich fürchte mit uns allen, das ist das Problem.
In einer Rede über den deutschen Nationalstaat haben Sie 1991 Stephan Hermlin mit dem Satz zitiert: »Ich sage mir zuweilen, dass ich weniger in Deutschland gelebt habe als in der deutschen Frage.« - Hat Ihnen Hermlin mit diesem Satz aus der Seele gesprochen?
Ja, absolut, doch es war kein neuer Satz, denn die Tradition, die Hermlin meint, kommt schon von den deutschen Klassikern. Ich denke an Goethe, der sagt, Deutschland, wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. - Nach meiner Meinung wollte er damit sagen, dass er weniger am deutschen Nationalstaat interessiert war, aber hoch interessiert an der deutschen Kulturnation, als deren Stifter er sich empfand, wie das übrigens auch für Schiller oder Lessing galt.
Sind Sie ein Gegner des Einheitsstaats?
Ja, so wie er sich repräsentiert ...
War Bismarcks kleindeutsche Lösung politisch verhängnisvoll?
Es sieht ein bisschen danach aus. Nun ist es selbstverständlich unsinnig, über historische Fakten zu rechten. Im Moment allerdings kann man die deutsche Kulturnation gegenüber dem deutschen Nationalstaat gar nicht hoch genug herausstellen, denn es sieht so aus, als ob die Kulturnation wieder untergebuttert wird.
Sie haben in dieser Rede 1991 gesagt, wieder erfolgt die Bildung des Nationalstaates aus einer Resignation der Intelligenz heraus - halten Sie daran fest?
Ja, das Wort Resignation gefällt mir dabei nicht so recht, weil das auch eine Art Rückzug andeutet. Resignation kann auch sehr modisch und chic sein - die Resignierten können in einer sehr luxuriösen Villa wohnen oder eine elegante Yacht bevölkern ...
Sie haben es aber gesagt ...
Ja sicher. Es ist vielleicht auch sachlich richtig, doch ich würde gern hoffen, dass es nicht bei Resignation bleibt, sondern zu Kritik führt ...
Aber das tonangebende Feuilleton der deutschen Kulturnation bläht die Segel der geistigen Wende von vor zehn Jahren. Der Zeitgeist weht von rechts. Irrt sich der Zeitgeist?
Wenn der meint, das Segel wird von rechts aufgebläht, dann irrt er sich wohl nicht. Aber wenn der Zeitgeist meint, dies sei gut, dann finde ich das schrecklich ...
Warum?
Weil die Opposition von rechts etwas artikuliert, was ich verstehen kann - nämlich, dass irgendetwas nicht stimmt. Es gibt eine hohe Arbeitslosenquote, die Wirtschaft wird immer dominanter gegenüber der Politik - und vieles mehr. Aber die Kritik von rechts läuft darauf hinaus, das immer die von unten getreten werden, die eigentlich noch Leidtragenderen - die Fremden, die Ausländer, die Kleinen, die nicht den großen Erfolg haben -, nicht die Großen, die doch daran viel schuldiger sind ...
Gibt es heute nicht nur einen Fremdenhass in Deutschland, sondern auch eine verkappte Intellektuellenfeindlichkeit?
Ich glaube, dass es die in Deutschland traditionell gibt. Es gibt auch eine Deutschenfeindlichkeit in Deutschland. Und wenn man Deutscher und Intellektueller ist, und beides nicht verleugnet, hat man es besonders schwer.
Noch einmal zu Ihrer Rede von 1991. Sie berichten da auch über einen Besuch bei Christa Wolf, bei dem Sie über deren Buch: »Kein Ort. Nirgends« sprachen. Ich zitiere Adolf Dresen: »Es war weiter nichts zu sagen, ein früheres Buch hatte geheißen »Der geteilte Himmel« - statt des Entweder-Oder jetzt ein Weder-Noch ...« - Sind Sie manchmal verzweifelt?
Oh ja, das bin ich oft, auch am Theater. Dafür gibt es viele Gründe, auch solche, die bei mir liegen. Doch dahinter steht eine Hoffnung. Christa Wolfs Titel »Kein Ort. Nirgends« - das ist ja eine wörtliche Übersetzung von Utopia. Und in all diesen Utopien, die nirgendwo sind, liegt ja irgendwo immer Hoffnung. Darum ging es mir immer, um etwas Positives, das aber nicht vorhanden ist ...
... auf das Sie nach wie vor hoffen?
Ja, sonst könnte ich morgens gar nicht aufstehen.
Mit zunehmender Verzweiflung oder mit dem Zweifel, der vom Alter her kommt, weil man meint, nicht mehr viel bewegen zu können?
Ich glaube, dass man etwas bewegen muss. Und dass man es heute noch viel mehr muss, als man es früher musste.
Sie haben einmal über Ihre Generation gesagt, sie sei geistig vaterlos aufgewachsen. Was haben Sie damit gemeint?
Wir wurden ja in einer sehr unsicheren Nation groß - einer Nation, die schuld war am letzten Krieg. Wir fühlten uns dadurch auch schuldig, obwohl wir Kinder waren. Mit der Gnade der späten Geburt ist das so eine Sache, eine solche Schuld erbt man auch - das habe ich sehr schnell empfunden. In der DDR wurde uns das - was gut war - nicht erspart. Wir bekamen erklärt, was Faschismus eigentlich bedeutet hat. Es hieß auch nicht Zusammenbruch, es hieß: Das war 1945 die Zerschlagung des Hitlerfaschismus. Die Fehler in der DDR war dann, dass man uns sehr schnell zu Siegern der Geschichte stilisierte ...
Sie und Ihresgleichen wollten künstlerische Freiheiten, zugleich wollten sie Ihrem Staat, der DDR, keinen Schaden zufügen. Hat sich das als Selbstbetrug erwiesen?
Ich wollte der DDR nicht nur keinen Schaden zufügen - ich wollte, dass sie so wird, wie ich sie mir vorgestellt habe. Kein Selbstbetrug, das war eine Hoffnung, und - wenn Sie so wollen -auch eine Illusion. Man lebt eben auch von seinen Illusionen, bis sie irgendwann durch die Wirklichkeit überführt werden. Ich denke aber diese Illusion ist nicht so überführt worden, wie viele das denken. Marx' Kapitalismuskritik ist heute aktueller als noch zu Zeiten der DDR. Der Kapitalismus wurde durch die Existenz des Ostblock - wenn Sie so wollen auch durch die Raketen - gezähmt. Er hat versucht, als etwas Schönes, Anziehendes zu erscheinen. Dieser Zwang ist heute weg. Jetzt geht es los, ohne Rücksicht auch auf die eigenen Verluste. Die klugen Leute des Kapitalismus wissen auch, da existieren Grenzen, und sie werden für die Beachtung dieser Grenzen kämpfen. Dazu braucht es aber eine starke Linke - und wenn sie klug wären, würden sie das auch einsehen.
1968 haben Sie am Deutschen Theater »Faust I« inszeniert - ihr künstlerischer Durchbruch in der DDR, gleichzeitig gerieten Sie wegen einer politisch aktualisierten Walpurgisnacht in die amtliche Kritik. Warum haben sie danach noch fast zehn Jahre am Deutschen Theater gearbeitet? Was hat Sie schließlich an der DDR ermüdet?
Eigentlich, dass es immer liberaler wurde, Widersprüche nicht mehr ausgetragen, sondern weggelogen wurden. Wahrheit auf der Bühne war nicht erwünscht. Wenn man die Verhältnisse in der DDR darstellen wollte, ging das nur, wenn man sie in der Klassik verpackte. Das war natürlich eine Methode, an der besonders die Schriftsteller verzweifelten, weil die ja nicht irgendetwas interpretieren, sondern die Wirklichkeit beschreiben wollten. Das war in der DDR nach wie vor sehr schwer möglich, die Künstler bekamen aber jetzt weniger die Peitsche - es gab mehr das Zuckerbrot.
Was stößt Sie am westlichen, am pluralistischen Kulturbetrieb ab?
Ich kenne den ja noch aus der Zeit, in der es eine starke Linke gab, die ich ein bisschen als Schaum empfunden habe, denn sie war für mich nicht wirklich fundiert ...
Sie haben gegen das Mitbestimmungstheater polemisiert ...
Weil Mitbestimmung zur Schwatzbude wurde. Aber das war egal, denn die Theater waren sowieso leer.
Sie haben seinerzeit Ihren Vertrag als Leiter des Städtischen Theaters in Frankfurt am Main nicht voll ausgeschöpft, sondern ein Jahr vorher gegangen. Sind Sie gescheitert als Theaterleiter?
Ja, eindeutig. Ich bin gescheitert, weil ich das, was ich eigentlich wollte, nicht erreicht habe. Was für mich besonders wichtig war, ließ sich nicht durchsetzen, nämlich ein deutsches Nationaltheater, das sich auf die deutsche Kultur beruft - nicht auf den deutschen Nationalstaat - und zwar ganz wesentlich.
Aber Scheitern ist eigentlich nichts Schlimmes. Schlimm ist es, wenn man aufgibt. Schlimm ist auch, wenn man scheitert und sagt, man sei nicht gescheitert, dann gibt man auch auf. Man darf ja in dieser Gesellschaft nicht scheitern, sondern muss immer irgendwie Erfolg haben, ich finde das lächerlich. Christa Wolf hat mir einen schönen Brief zu meinen letzten Buch geschrieben (Wieviel Freiheit braucht die Kunst - die Red.), in dem sie zu meiner Faust-Inszenierung von 1968 anmerkt: Dein Konzept war eigentlich damals schon, dass Faust scheitert. - Natürlich scheitert Faust, aber er fliegt weiter. Aus seinen Scheitern kommt neue Hoffnung, aber auch die Einsicht, auf diesem Weg ging ist es nicht gut, wir müssen einen anderen versuchen ...
(Das vollständige Gespräch wurde in der Sendereihe Zur Person ausgestrahlt.)
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