Hätte mir jemand vor 15 Jahren gesagt, dass ich als Mutter von zwei Kindern und Vorarbeiterin in einer großen Weberei eines Tages eine Händlerin sein würde, die zwischen Moskau und der Provinz hin und her pendelt, um an ihrem Marktstand die "erpendelte" Ware an den Mann zu bringen - ich hätte den Betreffenden einfach für verrückt erklärt. Aber es ist so, der Beruf, den ich jetzt ausübe, heißt im Russischen Tschelnok - das Weberschiffchen, das ewig hin und her pendelt.
Da ich aus einer Weberfamilie stamme, weiß ich sehr wohl, welch wichtige Rolle das kleine Schiffchen, das hin und her schwingt, in der Weberei spielt. Nur ist mit Tschelnok eben ein Gegenstand gemeint und kein lebendiger Mensch! Heute aber bin ich ein Weberschiffchen, eine Marktfahrerin, wie viele andere Frauen auch, die Waren in der Hauptstadt ein- und in der Provinz verkaufen. Alle zusammen sollen wir in Russland dank unseres "Pendelhandels" 30 Prozent des Bedarfs an Konsumgütern abdecken. Ob das stimmt, weiß niemand.
Wenn man es auf das ganze Land bezieht, gehen Hunderte Millionen Dollar durch unsere Hände. Wären wir "pendelnden Händlerinnen" nicht am Werk, ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie die Menschen in den Kleinstädten, wo es weder Arbeit noch Geld gibt, leben könnten.
Nicht einmal von Gott
Heute bin ich weit über 30 und handele vorwiegend mit billiger Kleidung. Mein Hochschuldiplom, meine Ehrenurkunden, meine Auszeichnungen und Medaillen "Für heldenhafte Arbeit" sind längst in die dunkelste Ecke meiner Wohnung abgewandert. Das neue Leben, die neuen Verhältnisse, die Notwendigkeit, selbstständig zwei Kinder zu füttern und groß zu ziehen, haben mich vor mehr als zehn Jahren gezwungen, alles hinzuschmeißen, was damals mein Leben ausmachte. Ich habe meine Vergangenheit mit einem scharfen Schnitt amputiert. Meine Gegenwart und meine nächste und absehbare und ferne Zukunft, das ist jetzt der Warenmarkt in Dimitrowgrad. Mein Arbeitsplatz ist die Marktbude in der zweiten Reihe, sofern man das Gelände vom Zentraleingang her betritt.
Als ich dort anfing, traf ich viele ehemalige "Kopfarbeiterinnen" mit Hochschulbildung und Ehrendiplom, deren Berufe - Lehrerin, Ärztin, Ingenieurin, Dozentin - heute nicht mehr gefragt sind. Einst war ich eine recht gute Läuferin auf den Mittelstrecken der Leichtathletik, manchmal lief ich sogar die 3.000 Meter Hindernis mit. Offenbar liegt mir die Kunst, Hindernisse zu nehmen, im Blut. Schon damals im Sport war es die Hauptsache das erste Hindernis zu überspringen, die Angst abzuschütteln und sich einem Wettkampf voll hinzugeben.
Ich wollte schon früher zu Sowjetzeiten von niemandem abhängen, weder von Männern noch vom Staat. Nicht vom Popen. Und nicht einmal von Gott. Soll man sich schämen, dass man nun "in Handel" macht? Ich dachte nicht eine Sekunde daran - und das war mein erstes und wichtigstes Startkapital. Viel wert und dann auch wieder nichts wert. Ich brauchte natürlich Geld, nur woher? Heutzutage sagt niemand, aus welcher Quelle sein Geld stammt. Auf jeden Fall habe ich auf die Dienste von Banken verzichtet. Irgendwann hatte ich mein kleines Startkapital zusammen, nur werde ich nie jemandem verraten, wie mir das gelang. Das wird für immer mein großes Geheimnis bleiben.
Für Schwache kein Mitleid
Das "Business" beginnt in der Regel auf den Moskauer Großhandelsmärkten "Tscherkisowski" oder "Luschniki". Das heißt, der Zug trifft um fünf Uhr morgens in der Hauptstadt ein. Erschöpft und unausgeschlafen wartet man auf dem Bahnhof, bis die Metro geöffnet wird. Es sind sehr viele Frauen, die auf die Metro warten: mürrische Tanten in ausgebeulten Trainingshosen, formlosen Jacken und Sportschuhen. In den Händen haben wir Einkaufsroller und die riesigen leeren türkischen Taschen. Irgendwo ganz nah am Körper verwahren wir unsere 20.000 oder 30.000 Rubel (etwa 1.000 Dollar - die Red.) in kleinen Scheinen, unsere Umsatzmittel. Unsere Augen verraten heimliche Angst und unverhohlene Frechheit. Anders kannst du nicht überleben, sondern wirst du gleich als Opfer erkannt.
Wir sind Weiber, keine Frauen mehr, wir sind nur noch Weberschiffchen, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen und anderen die Möglichkeit geben, an uns zu verdienen: den Verkäufern, die wir manchmal anheuern, den Taxi-Fahrern, Trägern, Steuerbeamten oder Leibwächtern. Wir kennen die "Gesetze" dieses Geschäftes gut, ordnen uns der Stärke unter und haben kein Mitleid mit den Schwächeren.
Ein Moskauer Markt ist so etwas wie eine kleine Stadt, die nach ihren eigenen Gesetzen lebt. Die einen stehlen, andere betrügen, wieder andere erpressen oder betreiben ihren Handel. Es gibt Virtuosen in "Tscherkisowski" oder "Luschniki", die schneiden dir den Geldbeutel vom Gürtel ab, und du merkst absolut nichts. Ich hatte Glück, mir wurde bisher der Beutel erst einmal abgeschnitten, und da hatten die Diebe Pech. Ich hatte ihn eben erst gekauft, so dass mein Geld noch gut versteckt im Leinensäckchen an der Brust lag. Die Diebe gingen leer aus, und ich lachte unter Tränen. Es kommt auch vor, dass dich irgendwelche jungen Frauen plötzlich umarmen und laut schreien, sieh doch nur, da ist eine aus unserer Stadt, die musst du doch kennen. Zuerst wäre ich darauf tatsächlich herein gefallen, als sie mich durch ihre Fragerei völlig aus dem Konzept brachten, unbedingt wissen wollten, woher genau ich gekommen sei - bis sie mich schließlich baten, ihnen 5.000 Rubel zu leihen, die ich nach ihrer Rückkehr sofort zurück bekäme. Aber da mussten sie unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Einmal aber wurde ich doch betrogen. Ich gab einem Verkäufer einen Tausendrubelschein, denn ich wollte Winterstiefel für meine Tochter kaufen. Der Aserbaidschaner aber sieht mich an und fragt: "Weshalb hast du mir nur 100 Rubel gegeben?" Ich geriet in Panik, Zeugen gab es keine, und Bestreiten war nutzlos, so einen überzeugt man nicht. Später stellte sich heraus, dass ich nicht die Einzige war, die auf diesen Trick hereingefallen war.
Mit den Jahren kommt die Erfahrung, wie man sich auf dem Markt verhält. Ich habe es sogar gelernt, einen Kredit bei einer Bank aufzunehmen und ihn ohne Verzugszinsen zurückzuzahlen. Ich richte mich bei meinen Ankäufen nach der Saison, beobachte meine Konkurrentinnen und wehre sie ab, wenn sie mich bitten, nicht die gleichen Waren wie sie an meinen Stand zu bringen. Ich bin schließlich nicht ihre gutmütige Großmutter, und sie sind nicht meine heiß geliebten Enkelchen.
Sehr wichtig ist es, keinen Ausschuss zu kaufen. Die chinesischen Angebote sind voll davon. Freilich sind nicht alle Händler so, dass sie einem Ausschusswaren unterschieben, viele von den Leuten, bei denen ich ständig kaufe, nehmen sogar nach einem Monat noch miserable Qualität zurück. Wenn mir das gelingt, bin ich jedes Mal sehr stolz auf mich, ich habe nämlich noch nicht vergessen, dass ich immerhin eine Frau bin, und wenn ein Kaukasier den Ausschuss zurücknimmt und mich gar noch zu einem Abendessen einlädt, ist mir das nicht unangenehm. Nur geht abends mein Zug, so dass mir all diese Einladungen ungelegen kommen und ein bisschen auf die Nerven gehen. Wohl auch deshalb, weil viele Männer die Pendlerinnen für leichte Beute halten.
Im Zugabteil bedrängte mich einmal einer dermaßen, dass ich ihn nur mit großer Mühe loswerden konnte. Aber da ich ständig viele schwere Sachen zu schleppen habe, bin ich stark wie ein Mann. Nicht jeder "Held" schafft es, die Tasche mit der Ware auf die oberste Ablage zu schwingen, ich - mit links! Jener "Verehrer" war am Ende sogar voller Respekt für mich und lud mich schließlich in sein Haus nach Uljanowsk ein.
Geöffnete Uniformtaschen
Nur eins kann ich nicht verstehen. Warum mögen die Moskauer uns "Weberschiffchen" nicht? Sie beschimpfen uns nach Belieben, bewerfen uns mit Bosheiten. Sie kommen auf unseren Markt, der uns gehört und nun einmal ein Großhandelsmarkt ist, spazieren durch die Reihen auf der Suche nach billigem Zeug und sind ungehalten, weil wir sie mit unseren Einkaufsrollern nur stören.
Schließlich habe ich irgendwann meine Säcke voll. Zwei kommen auf den Roller, eine große Tasche trage ich selbst. Ich würde sie auch selbst bis zum Bahnhof bringen, aber in die Metro darf man mit diesem Gepäck nicht hinein. Und so nehmen wir "Pendlerinnen" eben zu viert ein Taxi. Ab und zu denke ich daran, alles hinzuschmeißen, nach Moskau zu kommen und selber Taxifahrerin zu werden. Ich habe seit meiner Kindheit einen Moskwitsch gefahren, als mein Vater den als Gebrauchtwagen gekauft hatte.
Diese Gedanken gehen mir immer wieder durch den Kopf auf der Fahrt zum Bahnhof, wo man noch einmal handeln muss, denn hier herrschen eigene Gesetze und eine ganz eigene Mafia. Das Gepäck muss gewogen und teuer bezahlt werden. Aber wo werde ich denn! Da stehen ja Männer auf dem Bahnsteig herum, und ihre Uniform zeigt weit geöffnete Taschen. Hat man 50 Rubel da hineingesteckt, darf man ungehindert einsteigen. Und die Schaffnerinnen verstehen alle Probleme der "pendelnden Händlerinnen" und lassen dich nach einer kurzen empörten Tirade wegen der Bestechung auf dem Bahnsteig einsteigen.
Auf der Fahrt nach Hause verfliegt die Zeit gewöhnlich schneller. Es macht nichts, dass der Nachbar im Abteil ein Trunkenbold ist oder die Kolleginnen aus dem "Pendelgeschäft" Wodka trinken und dich einladen. Ich trinke nicht, es ist viel zu gefährlich, man muss stets aufpassen, es kann alles Mögliche passieren.
Und dann sind wir schon in Dimitrowgrad, der Zug fährt langsam ein. Gott sei Dank, die Tochter hat es nicht vergessen und holt mich ab. Sie hilft mir, aber ich möchte nicht, dass sie nachher diese verfluchten türkischen Säcke schleppt. Morgen ist übrigens Sonnabend, mein bester Tag auf dem Markt. Wenn ich doch ein wenig Glück hätte und gleich morgen früh gut ins Geschäft käme ...
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