Prolog
Die Herstellung eines Farbbeutels ist keine einfache Sache. Es
gibt kleine Luftballons, die man unter den Wasserhahn klemmen kann. Prall gefüllt lassen sie sich gut werfen. So eine Wasserbombe ist glatt und kühl und liegt gut in der Hand. Sie wiegt vielleicht 150 Gramm und fliegt bei gesunder Schultermuskulatur etwa 30 Meter weit. Aber wie bekommt man die Farbe da hinein?
Das ist ein Problem. Es geht ja darum, den Ballon derart prall mit Farbe zu befüllen, dass er beim Zusammentreffen mit seinem Ziel auch tatsächlich zerplatzt. Soll man die Farbe direkt in den Ballon pressen, mit einer Spritze oder einer Pumpe? Oder ist es sogar besser, den Ballon zuerst aufzublasen und dann den Versuch zu unternehmen, in den bereits unter Druck stehenden Hohlraum die Farbe einzubringen?
Man könnte auch ganz Abstand von der Idee des Farbbeutels nehmen und für die Farbe einen anderen Träger suchen. Eier vielleicht. Erst würde man sie ausblasen, wie man es vor dem Osterfest tut, um ihnen dann das Ausgeblasene mittels einer feinen, ins Innere eingeführten Kanüle durch Farbe zu ersetzen. Keine schlechte Idee, wäre da nicht die sprichwörtliche Empfindlichkeit von Eiern, die dem sorglosen Transport enge Grenzen setzt. Stabiler sind Glühbirnen. Ein verblüffender Einfall. Es ist ein bisschen aufwendig, aber es funktioniert: Am Gewinde lässt sich mit entsprechendem Werkzeug leicht ein kleines Loch in den Glaskörper bohren, durch das sich dann ganz einfach die Farbe spritzen lässt. Glühbirnen haben allerdings zwei entscheidende Nachteile: Sie splittern, und es wird sie bald nicht mehr geben. Die scharfkantigen Scherben zerborstener Birnen stellen eine nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle dar. Hunde und Radfahrer könnten in Mitleidenschaft gezogen werden. Abgesehen davon werden die gläsernen Birnen über kurz oder lang aus unserem Alltag verschwinden, da ihr Verkauf in den Grenzen der Europäischen Union aus umweltpolitischen Gründen nur noch unter Beachtung strenger werdender Vorschriften möglich ist. Und Energiesparlampen eignen sich für das Befüllen mit Farbe gar nicht.
Nein, es führt am bewährten Prinzip des Farbbeutels kein Weg vorbei. Und wenn man eine Weile experimentiert hat, starke Verschmutzung von Bad oder Küche eingeschlossen, gelangt man irgendwann zum Kern der Lösung: Das Geheimnis liegt im Mischungsverhältnis! Man muss einfach die Farbe in sehr konzentrierter Form in den Ballon bringen, träufeln oder spritzen, wie man mag. Dann den Ballon am Wasserhahn befüllen, verknoten, gut schütteln – fertig.
Jetzt sind Sie bereit für die politische Auseinandersetzung.
Einleitung
»Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts«, hat Botho Strauß geschrieben. Das gilt nicht mehr. Inzwischen können wir uns die Gestalt unserer Tragödie ausmalen: Wir haben es erlebt, im August 2011, als die Unruhen im Londoner Stadtteil Tottenham begannen und dann auf die Bezirke Enfield und Brixton übergriffen, auf Hackney, Croydon und Lewisham. Wir müssen nur bei Youtube nachsehen. Die Bilder der London riots sind der Vorfilm unserer Zukunft: Der malaiische Student Asyraf Haziq Rosli sitzt blutend am Boden, ein paar Jugendliche beugen sich über ihn, helfen ihm auf, öffnen langsam den Rucksack des Verletzten und räumen ihn aus. Sie lassen den jungen Mann, der sich nicht wehren kann, einfach da stehen. Das ist der menschliche Nullpunkt.
Der britische Premier Cameron brauchte ein paar Tage, um die richtigen Worte zu finden. Dann sagte er: »Die sozialen Probleme, die sich seit Jahrzehnten entwickelt haben, sind vor unseren Augen explodiert«, und er sprach von der »kaputten Gesellschaft«. Das war ein Fortschritt. Gesellschaft – dieses Wort kommt einem britischen Konservativen nicht leicht von den Lippen. Für Margaret Thatcher war das der springende Punkt: »Während die Sozialisten von der Gesellschaft ausgehen und wie man sich in sie einfügt, nehmen wir den Menschen als Ausgangspunkt«, hatte die eiserne Premierministerin gesagt. Aber wenn die Gesellschaft kaputt ist, geht auch der Mensch kaputt. Das wollten die Ideologen des Neoliberalismus lange Zeit nicht wahrhaben. Die Neoliberalen haben die Idee des Liberalismus pervertiert. Aber wer den gesellschaftszersetzenden Terror entgrenzter Märkte mit Adam Smith begründen will, hat den Moralphilosophen nicht richtig gelesen. Liberalismus handelt von Freiheit, nicht von Verantwortungslosigkeit. Der Markt selbst hat keine moralische Qualität, und ohne Moral werden wir zu Tieren.
Jetzt fällt das plötzlich allen auf. Hätte sich einer vor Jahren auf den Marktplatz gestellt und gerufen: So geht es nicht weiter mit dem Kapitalismus, dann wären die Leute kopfschüttelnd weitergegangen oder der Staatsschutz wäre gekommen, je nachdem, wie laut das Rufen erklungen wäre. Und heute, wer würde heute einem solchen Redner widersprechen?
Das ist ein Problem. Es widerspricht niemand mehr. Aber es ändert sich nichts.
Heute schreibt die Links-Politikerin Sahra Wagenknecht ihre vielleicht klügsten Texte gegen das System in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, die man früher konservativ nannte oder bürgerlich. Aber diese Worte haben ihre Bedeutung verloren, wenn der Feuilleton-Herausgeber Frank Schirrmacher wortmächtig beklagt, mit welch»gespenstischer Abgebrühtheit« die Kanzlerin der CDU das moralische Vakuum bürgerlicher Politik verwaltet, und wenn er von sich aus feststellt: »Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik.«
Überhaupt, mit dem Wort Kapitalismus kann wieder gearbeitet werden, auch außerhalb der linken Nische. Plötzlich erinnern sich alle, dass schon Marx gelehrt hat, die Geschichte des Kapitalismus sei die Geschichte seiner Krisen. Man holt die blauen Bände aus dem Schrank, die man damals bei Besuchen in Ostberlin für das behördlicherseits aufgenötigte DDR-Geld gekauft hat, und schlägt noch mal nach: »Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise.« Steht so im »Kapital«. Daran muss man sich erst mal wieder gewöhnen. Das soziale Selbstverständnis des Westens ist durch die Finanzkrise, die in ihrer Ausprägung als Eurokrise noch nicht beendet ist, so schwer angeschlagen, wie sein technologisches es nach der Explosion im Kernkraftwerk Fukushima war: Wir erleben den Super-GAU des Systems, die lange vorausgesagte, aber vielleicht nicht ernsthaft erwartete Katastrophe, den moralischen Meltdown. Katastrophen werden übrigens meistens vorausgesagt – und überkommen uns
dann doch unerwartet.
Die Symptome sind unübersehbar: Bei den London riots gingen nur Scheiben zu Bruch. Die Finanzkriminellen an den Märkten zertrümmerten die Maßstäbe von Recht und Unrecht. Im Sommer 2012 mussten sich Topmanager von HSBC, der größten europäischen Bank, einem Ausschuss des USSenats stellen, weil ihr Haus offenbar jahrelang mexikanisches Drogengeld gewaschen hatte. Die Bank legte vorsorglich 700Millionen Dollar für Strafzahlungen zurück. Zur selben Zeit meldete sie einen Gewinn in Höhe von 12,7Milliarden Dollar.
Vor der Reise nach Washington ließ Stuart Gulliver, Chef der Bank, verlautbaren: »Wir werden uns entschuldigen, unsere Fehler einräumen, zu unseren Handlungen stehen und uns unmissverständlich dazu verpflichten, geradezurücken, was schiefgelaufen ist.« Die PR-Strategen der Bank folgten hier der Strategie, die CIA-Analyst Jack Ryan seinem Präsidenten im Tom-Clancy-Thriller »Das Kartell« empfohlen hatte: »Es ist sinnlos, eine Bombe zu entschärfen, die bereits explodiert ist.« Das ist die professionelle Technik zeitgenössischen Krisenmanagements: Leugnen, bis der Arzt kommt, war gestern. Es ist viel klüger, einzuräumen, was offensichtlich ist, um Entschuldigung zu bitten, Besserung zu geloben – und manch einer macht dann einfach weiter wie vorher.
Das ist eine wasserdichte Strategie. Es gibt dagegen kein Mittel. Außer dem Beziehungsabbruch. Aber kann man die Beziehung zu Europas größter Bank abbrechen? Natürlich kann man das. Davon, unter anderem, handelt dieses Buch. Ein Bankier wie Gulliver entschuldigt sich tatsächlich selbst. Er entledigt sich jeder Schuld. Das kostet ihn nichts – oder eben nur 700Millionen Dollar. Er legt mit dem Bekenntnis seiner Fehler auch die Fehler ab. Und weg sind sie. Die Verantwortung dafür muss er im Gegenzug nicht tragen. Schuld und Verantwortung sind nur zwei Begriffe von vielen, die nicht mehr meinen, was sie bedeuten. Wer einmal diesen Schritt getan hat, wer sich der Bedeutung der Begriffe entledigt hat, der hat sich von der Last befreit, verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen. Die Lügen fallen dann leichter. Weil sie als Lügen gar nicht mehr wahrgenommen werden.
Wir erleben das in der Finanzkrise, die selbst nur ein Symptom ist. Geld ist eine Frage des Vertrauens. Aber es geht um viel mehr als um die Wiederherstellung des Vertrauens der Märkte in sich selbst. Da mag es sein, dass diese Krise der Märkte in all ihrer Perversion und ohne es zu wollen die Wahrheit des Systems widerspiegelt. In Wahrheit geht es um eine Krise des Vertrauens in das System und seine Begriffe: Gerechtigkeit, Recht, Verantwortung, Gesetz, Pflicht, Gleichheit, Vernunft, Fortschritt, Öffentlichkeit, Parlament, Regierung, Wahlen, Demokratie.Wir erleben die Aushöhlung und dann den Verlust dieser Begriffe. Aber wir können auf sie nicht verzichten. Es gibt Schlauköpfe, die meinen, man brauche gar keinen Wertevorrat mehr. Wir werden ein paar kennenlernen. Für sie gilt Peter Sloterdijks berühmte Zynismus-Definition: »Zynismus, als aufgeklärtes falsches Bewusstsein, ist eine hartgesotten-zwielichtige Klugheit geworden, die den Mut von sich abgespalten hat, alle Positivitäten a priori für Betrug hält und darauf aus ist, sich nur irgendwie durchzubringen.« Das sind also die Zeitgenossen, die meinen, es genüge völlig, sich »irgendwie durchzubringen«. Die Apathie für Besonnenheit halten und Angst für Vernunft und Faulheit für Weitblick. Man kann es sich ja auch in der Kapitulation gut einrichten. Das Problem ist nur: Für eine Demokratie, die den Namen verdient, reicht das auf Dauer nicht aus. Im zynischen Exil gibt es keine Demokraten.
Der englische Politologe Colin Crouch hat für unsere Gegenwart den sehr wirksamen Begriff der Postdemokratie geprägt: »Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.« In der Eurokrise wurde diese These verifiziert.
Und was kommt nach der Postdemokratie? Die Stille? Oder ein neuer Sturm? Was bleibt von uns übrig, wenn die Citoyens zu Verwaltungsbürgern werden, die ihrem Zynismus noch freieren Lauf lassen als die Politiker? Wir beobachten das bereits auf allen Seiten. Dem rechten Machtzynismus steht schon heute ein linker Verzweiflungszynismus gegenüber. Eine wütende Resignation der zusammengepressten Lippen, die dem System bereits so tief misstraut, dass ihr selbst die angedrohten, angekündigten oder vollzogenen Rücktritte der politischen Kaste gleichgültig geworden sind. Weil sie nichts bedeuten. Wenn wir aber unsere Begriffe verlieren, dann verlieren wir die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu verstehen. Der Finanzphysiker Emanuel Derman hat geschrieben: »Für Modelle der physikalischen Welt sind wieder gute Zeiten angebrochen. … Was jedoch Modelle für die soziale Welt angeht, sind die Zeiten schlecht.« Und zwar, weil die Modelle nicht mehr für Vorhersagen taugen. Wir haben eine Vorstellung davon, was ein Kanzler ist und ein Minister, und ein Präsident, und ein Bankier. Und wir haben solche Vorstellungen auch von einem Parlament, einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt, einem Gericht. Und wir erwarten von diesen Personen und Institutionen ein bestimmtes Verhalten. Was tun wir, wenn die Personen und Institutionen diese Erwartungen enttäuschen? Weiter unten werden wir sehen, wie die Bundeskanzlerin sich vom Bundesverfassungsgericht den Vorwurf gefallen lassen musste, in der Eurokrise systematisch die Rechte des Bundestags verletzt zu haben. Das sind keine Kleinigkeiten. Wie sollen wir uns über Demokratie unterhalten, wenn wir immer dazu sagen müssen, dass wir darunter nicht dasselbe verstehen wie die Bundeskanzlerin?
Im Film rechtfertigt sich Ryans Gegenspieler, der CIA-Mann Ritter, mit den Worten, man dürfe die Dinge nicht nur in Schwarz und Weiß sehen: »Grau! Die Welt ist grau, Jack.« Je weiter die Entfremdung voranschreitet, desto mehr muss sich derjenige als weltfremd schelten lassen, der sein Heil in Begriffen sucht, die ihrer Bedeutung entkleidet wurden. Das ist ein gefährlicher Prozess.
Dieses Buch erzählt von jener Entfremdung. Es ist ein Streifzug, eine Expedition durch die Gegenwart eines Systems, das seine eigenen Versprechen bricht. Und am Ende stößt man auf ein einziges Wort. Ein altmodisches Wort, in dem aber die einzige Hoffnung liegt, verschüttet, schwer auszumachen, noch undeutlich: Radikalität.
Die Suche führt uns von außen nach innen und wieder zurück: Was ist? Was empfinden wir? Und was sollen wir? Welches Regime erleben wir? Welchen Reflex löst es bei uns aus? Welche Reaktion sollten wir von uns verlangen? Es geht darum, Begriffe zurückzuerobern: Gerechtigkeit, Gesetz, Gleichheit, Demokratie, Freiheit: Ein trübsinniger Kapitalismus hat uns diese Begriffe geraubt. Wir haben unsere Verantwortung delegiert – und dann ist sie im Dickicht furchtsamer Politiker, gieriger Banker und verständnisvoller Journalisten einfach verschwunden. Darum ist es zu wenig, bei der Wahl die Stimme abzugeben und danach zu schweigen.
Wir werden also um die Frage nach den Handlungen nicht herumkommen. Das richtige Bewusstsein allein schafft noch
nicht das richtige Sein. Der Schriftsteller Ingo Schulze hat darüber nachgedacht und kommt zu dem Schluss: »Wir müssen über die Geste und die symbolische Handlung hinaus unseren Willen gewaltlos kundtun, und dies – wenn nötig – auch gegen den Widerstand der demokratisch gewählten Vertreter.«
Da spürt man schon das Beben, das den Autor erfasst hat bei dem Gedanken, sich ernsthaft aufzumachen – »über die Geste und die symbolische Handlung hinaus«. Schulze weiß ja auch, dass sich an Gesten und nur symbolischen Handlungen niemand mehr stört. Und an Worten ohnehin nicht. Sahra Wagenknecht hat einmal ein neues Buch auf Sylt vorgestellt, nicht eben ein sozialrevolutionäres Zentrum der Republik. Man muss sich das so vorstellen, dass die Frau, die sich mal als Kommunistin ausgab, ihr Werk mit den Worten signierte: »Für eine bessere Welt.« Womöglich bestiegen die Leute dann befriedigt ihre Porsche Cayennes und fuhren zum Pflaumenkuchenessen ins Gogärtchen nach Kampen. Auf Sylt, dieser Gedanke drängt sich auf, liegen Signieren und Resignieren ganz nah beieinander.
Auch die gutmeinende Geste bleibt ein leeres Zeichen. Was liegt denn jenseits der Gesten und symbolischen Handlungen? Der Körper. Wir werden dazu kommen, dass der Körper in die Politik zurückkehren muss. Auf die eine oder andere Weise. Bedeutet das Gewalt? Ingo Schulze spricht von der Gewaltlosigkeit. Er hat im Osten einen gewaltlosen Umsturz der Verhältnisse erlebt. Allerdings hatte er es mit Verhältnissen zu tun, die schon brüchig waren und nicht so schwer zu stürzen. Das ist heute nicht so. Gleichwohl: Die Revolution würde in Deutschland bekanntlich nur nach vorheriger Lösung einer Bahnsteigkarte erfolgen. Nur, was geschieht, wenn es mit Schulzes Willensbekundung nicht mehr getan ist?
Das Tabu der Gewalt ist eines der wenigen, das hält. Da sind sich alle einig. Wer würde öffentlich zur Gewalt aufrufen? Er würde sich strafbar machen, nach Gesetz und nach öffentlicher Meinung. Paragraph 111 des Strafgesetzbuches stellt fest, wie auf die »Öffentliche Aufforderung zu Straftaten« zu reagieren ist: »Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften zu einer rechtswidrigen Tat auffordert, wird wie ein Anstifter bestraft.« Und der Anstifter wird, wie es in der einschlägigen Vorschrift heißt, »gleich einem Täter bestraft«. Das sollte man sich merken: Es kommt das ernstgemeinte und das ernstgenommene Wort der Tat gleich.
Aber wer die Gewalt verdammt, sollte sich auch darüber klar werden, was er damit aufgibt, wo eigentlich die Gewalt beginnt, wer sie ausübt und wer ihr Opfer wird.
Oskar Negt hat gesagt, es sei ein Irrtum zu glauben, die Theorien müssten in die Praxis umgesetzt werden. Aber er erinnert an das Wort von Adorno, nach dem wir nicht wissen, was die Dinge sind, wenn wir nicht wissen, was über sie hinausgeht.
Es ist an der Zeit, wieder das Wünschen zu lernen. Und das Handeln.
Jakob Augstein ist seit 2008 Verleger des Freitag. Bei Hanser erschien zuletzt: Die Tage des Gärtners. Vom Glück, im Freien zu sein (2012).
Sabotage: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen Jakob Augstein Hanser2013, 304 S., 18,90 € (D)
Erscheinungsdatum: 29.07.2013, jetzt im Handel
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