Der Osten ist tot. In der Zeitung oder im Fernsehen lernt man viel über Langzeitarbeitslose, Industriebrachen, Jugendliche ohne Perspektiven, Investitionsruinen. Wo ist das Volk, das im Herbst 1989 dazu beitrug, das Gesicht der Welt zu verändern? Wo sind der Mut, der Wille, die Widerstandskraft? "Auch heute diskutiere ich häufig mit meinem Sohn darüber, wie man die politischen Verhältnisse verändern könnte. Man kann in die Realpolitik gehen. Aber da erreicht man nichts. Im Privaten kann man auch Gutes tun", sagt Dietmar Ringel, freier Mitarbeiter beim Inforadio des RBB. Der Rückzug ins Private - ein (Über-)Lebensmodell? Lutz Deckwerth etwa, freier Journalist, sieht im kleinen Sohn seinen Lebenssinn. Später will er für ihn ein Buch über die Wende schreiben. "Sonst verdränge ich das irgendwann und erzähle noch, in der DDR war alles schön." Marion Brasch, Moderatorin bei Radio 1, bringt es auf den Punkt: "Nachdem ich bei DT 64 weg war, hat der Begriff Widerstand für mich aufgehört zu existieren."
Die drei Medienarbeiter verbindet ihre Arbeit bei DT 64, dem Jugendsender der DDR. Als Begleitprogramm zum Deutschlandtreffen 1964 in Berlin gegründet, wurde es wegen des großen Erfolges ausgebaut. Lange Zeit stand der Sender unter dem Einfluss der FDJ, den die Mitarbeiter immer wieder zu hintergehen wussten. Dennoch war DT 64 kein Hort der inneren Emigration. "Wenn jemand Fundamentaloppositioneller war und mit der DDR sowieso nichts anfangen konnte, hatte der auch keine Möglichkeit, im Radio zu arbeiten", so Dietmar Ringel. Viele von ihnen wünschten sich Veränderungen, aber nicht den Zusammenbruch des Staates. Wie Marion Brasch: "Ich war schon enttäuscht, als die Mauer fiel, weil da eine Idee verlorengegangen ist. Statt des Anschlusses hätte ich mir ein System gewünscht, das offen bleibt."
An einen eigenen, dritten Weg glaubte auch Klaus Koch. Er ist der Chef des Musiklabels "Buschfunk" und damit Herr über Ostrock und Liedgut. "Wir wurden kulturell überrannt", konstatiert er heute. Mit 2.000 Mark von der Westtante, einem Trabant als Dienstwagen und der Freundschaft mit Gerhard Schöne fing er im Dezember 1989 an. Bald wurde das neue Label zu dem Ansprechpartner für die Bands und Liedermacher der untergehenden DDR.
"Ich bin da ziemlich blauäugig rangegangen", sagt der stämmige Mann mit dem Castro-Bart, in dem man sicher nicht den Geschäftsführer und Besitzer eines erfolgreichen Musikverlages vermuten würde. Damals konnte man noch von 150 Mark leben. Und das musste Klaus Koch, weil Buschfunk erst seit 1994 schwarze Zahlen schrieb. Dafür war es die prägende Zeit für das Label. Nach dem Zusammenbruch der DDR fehlte vielen Ostkünstlern die Anlaufstelle.
Gerhard Gundermann etwa, einer der innovativsten und mutigsten Liedermacher, hatte sich beim Branchenriesen BMG mit einer Demokassette vorgestellt, die dort niemanden interessierte. Durch Zufall fielen diese Aufnahmen Klaus Koch in die Hände. Die Zusammenarbeit bis zu Gundermanns Tod 1998 war sehr erfolgreich: "Seine Musik hat dem Verlag ein bestimmtes Profil und ein gewisses Selbstverständnis gegeben." Buschfunk ist im fünfzehnten Jahr seines Bestehens nicht mehr wegzudenken aus der kulturellen Identität der neuen Länder.
So wenig wie DT 64 aus den letzten Tagen der DDR und den ersten der wiedervereinten Republik. Der Sender wirkte glaubwürdig, die Hörer fühlten sich ernstgenommen. Ihr Sender war früher als andere DDR-Institutionen zu demokratischen Ufern aufgebrochen. Am 8. November 1989 veranlasste die DT 64-Crew ihre Chefredaktion zum Rücktritt und wählte eine neue Leitung.
Eine neue Zeit begann. "Wir waren frei von allen Bevormundungen und konnten tun und lassen, was wir wollten", so Dietmar Ringel, der damals neugewählte Intendant. Marion Brasch spricht von Anarchie und kreativem Chaos. Reporter wurden in die Stadt und das Land geschickt, um den rasanten Veränderungen gerecht zu werden. Moderatoren übernachteten im Studio. In den Reportagen und Berichten ging es nach Jahren der Halbsätze und Umschreibungen endlich zur Sache. Und auch in der Musikredaktion wurden die Giftschränke geöffnet. Auf die Plattenteller kamen die bis dahin verbotenen Scheiben von Renft bis Udo Lindenberg.
Eine Mischung, die Raum zur Identifikation bot. Umso emotionaler waren die Reaktionen der Hörer, als 1991 die Zukunftsaussichten des Senders publik wurden. Laut Einigungsvertrag hatten sich alle Rundfunkprogramme an die föderale Struktur anzupassen oder wurden zum Jahresende 1991 abgeschaltet. DT 64 wollte aber weiterhin für alle Hörer der neuen Bundesländer senden. Freundeskreise formierten sich und organisierten Protestaktionen. Hörer ketteten sich ans Brandenburger Tor oder blockierten den Berliner Fernsehturm, sammelten Unterschriften und gingen von Rostock bis Erfurt zu Tausenden auf die Straße.
Weder die beginnenden Massenentlassungen noch die ersten großen Firmenpleiten hatten das vermocht. Doch hier ging es um kulturelle Identität, die den Hörern genommen werden sollte.
"Die wichtigste Erfahrung dieser Generation ist, dass wir uns nach der Wende alle hinten anstellen mussten", sagt Klaus Koch heute. "Dass sich kein Mensch dafür interessiert, wie das eigentlich war und woher die Leute kommen und was es für künstlerische Leistungen gab, hat schon einen bestimmten Widerstandswillen erzeugt, ohne den es nicht gegangen wäre." Mittlerweile haben sich Verlag und Versand als Nischenlabel etabliert. Manch ein Erfolg gegen die Platzhirsche der Branche konnte errungen werden. Es ist ein stiller Kampf, den Klaus Koch führt. Bislang unbesiegt.
DT 64 verlor den Kampf gegen die Einigungsparagraphen und die Machtinteressen der Rundfunkstationen. Der Sender endete als MDR Sputnik und ist heute Experimentierfeld für neue Radioformate. Die anfangs euphorisch gefeierte Übernahme erwies sich als Pyrrhussieg, der monatelange Protest als vergeblich. Schließlich waren auch die Wut und der Widerstandswille erschöpft. Die Kämpfe von einst haben ihre Spuren hinterlassen.
Dietmar Ringel arbeitete nach dem Ende von DT 64 beim Privatradio und merkt: Quote macht Programm. "Es sind nicht die Zeiten, mit Revolution einen Sender zu verändern." Ähnlich sieht es Lutz Deckwerth, der beim Boulevardfernsehen landete. Marion Brasch dagegen hat ihren Traumjob, sie moderiert bei Radio 1 Frühstücksradio und Literatursendungen. Widerstand spielt für sie keine Rolle mehr. Sie erzählt: "Mein Bruder [der vor einigen Jahren verstorbene Dichter Thomas Brasch] hat mal gesagt, das Schreckliche im Osten war, dass du dir immer den Kopf eingerannt und dir dabei weh getan hast. Im Westen rennst du nur gegen Gummiwände und prallst ab."
Buschfunk ist ein Generationslabel und wird irgendwann verschwinden. Für Klaus Koch ist das kein Problem, weil die Nische genug Platz für seinen Verlag bietet. "Mit Sicherheit", meint er lachend, "falle ich mit einer CD in der Hand ins Grab." Bis dahin gibt es noch einen Ansprechpartner für die aussterbende Gattung Ostrock.
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