Wirksame Schutzimpfung

Geschichte 1919 berichtete Victor Klemperer aus dem revolutionären München. Schon damals ahnte er den kommenden Terror
Ausgabe 32/2015
Klemperer bekam 1956 in der DDR den „Vaterländischen Dienstorden“ verliehen
Klemperer bekam 1956 in der DDR den „Vaterländischen Dienstorden“ verliehen

Foto: Horst Sturm/Bundesarchiv

Am Anfang steht hier, anders als im Marx’schen Modell, die Farce. Ausgerechnet im bodenständigen Bayern, im selbstgefälligen München, spielt die „Fremdenlegion“ der Boheme Revolution, einstweilen noch zur Belustigung der Bürger. In sich sind die Universaldilettanten längst verkracht, wechselweise wünschen sie sich die Pest an den Hals: „Feindliche Brüder, aber Brüder in der Bohème.“ Ironisch, doch geradezu liebevoll skizziert Victor Klemperer hier Kurt Eisner, Erich Mühsam und Max Levien, belustigt sich über Kommunisten als Landkommunarden im sexuellen Jenseits.

Es ist der Bericht eines wohlwollenden Bürgers. Victor Klemperer, Romanist und scharfsinniger Analyst der Nazi-Sprache, den seine Tagebücher aus der NS-Zeit vor ein paar Jahren postum in die Bestsellersphäre öffentlicher Aufmerksamkeit katapultierten, hat 1919 für die Leipziger Neuesten Nachrichten aus dem revolutionären München berichtet. Unter dem Kürzel A.B., Antibavaricus. Denn auch er ist, wie die Revolutionsboheme, ein Zugereister. Preuße, auf der Suche nach einer universitären Anstellung. Anders als die meisten der pazifistischen Revoluzzer hatte er sich freiwillig zum Krieg gemeldet und an beiden Fronten gekämpft. Er hegt Sympathien für die Einzelnen, das Ganze erscheint ihm schräg bis suspekt. Doch er hat einen genauen Blick für Unebenheiten und Widersprüche.

Komisch und zugleich hinreißend erscheint ihm im April zum Beispiel die Begeisterung, mit der die Studenten – „nicht ein bißchen sozial gesinnt und nicht ein bißchen politisch reif“ – den Anspruch der gestürzten Regierung Hoffmann, aus dem Bamberger Exil vorgetragen, als Ordnungsversprechen feiern. Tragikomik wird er auch in der folgenden Zeit immer wieder sehen, möchte lachen und weinen zugleich. Anfang Februar 1919 hatte er die Trauerfeier für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit der prunkenden Feier der akademischen Kriegsheimkehrer in der Universität konfrontiert. „Die Welt der Wahrheit gegen die Welt des Scheins. Wirklich?“ Und nun geht er auf die schwärmerischen Verzeichnungen der Sozialdemokratie in Gustav Landauers Reden ein und darauf, dass Rosa Luxemburg, „der eigentliche und einzige Mann ihrer Partei“, in den Reden nurmehr als Liebknechts Genossin gestreift wird.

Weg zur Rettung

Die Gemeinsamkeit beider Feiern: der Ruf zur harten Arbeit als Weg zur Rettung. Doch wer, fragt er, kann den besseren Weg weisen – „die Leute der nirgends greifbaren Internationale“ oder diejenigen, die sich zu einem „Gesamtdeutschland“ bekennen, unter Einschluss Deutschösterreichs? Eine Momentaufnahme der Bruchlinien und auch eine zu den Denklinien des liberalkonservativen Akademikers.

Klemperers Berichte sind durchweg höchst anschaulich, darstellerisch gewieft, zugleich doch völlig frei von meinenden Überwältigungen der Leserschaft. Noch heute kann man das Für und Wider wägen. Dies Buch nun hat aber noch eine zweite Ebene. Neben der Dokumentation der Berichte des damals Enddreißigers enthält es die Erinnerungen und Reflexionen, an die der über 60-Jährige später in Dresden, aus dem Amt gejagt und von den Nazis in ein „Judenhaus“ gesperrt, anknüpft. Schon in seinen Artikeln hatte er die sich aus der Farce anbahnende Tragödie gesehen, den alsbaldigen kommunistischen Terror der zweiten Räterepublik, zumal dann den brutalen Terror der „Weißen“, der gewaltberauschten Freikorps – und deren Antisemitismus, aus dem heraus der terroristische Kommunismus zur Emanation des allbösen Judentums wurde, was in der Formel vom jüdischen Bolschewismus kulminiert. Er sieht nicht nur die verrohten Frontkämpfer, sondern auch die rassistische Gemütsrohheit des Spießbürgertums. Seine nachgetragenen Erinnerungen und Reflexionen ziehen so nicht nur die eigenen bedrohten Lebenslinien nach, sondern auch die Linien des politischen und moralischen Verfalls zur antisemitischen Ochlokratie.

In der Abfolge der journalistischen Centenarfeiern steuern wir so sicher auf die der deutschen Räte-Revolution(en) zu wie die EU – wohl schneller – auf die nächste Griechenland-Krise. Dies Buch ist jetzt schon eine wirksame Schutzimpfung gegen alle die Meinungsdelirien, die da wieder auf uns zukommen werden.

Info

Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919 Victor Klemperer Aufbau 2015, 263 S., 19,95 €

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