Nach ungefähr zehn Minuten Film sagt die Frau „Ist scheiße hier“ und zieht an ihrer Zigarette. „Ich will weg hier.“ Sie heißt Milena, kommt aus Rumänien und sitzt an einem Waldrand in Niedersachsen zwischen blinkenden Lichterketten in einem Wohnmobil, um Freiern ihre Dienste als Sexarbeiterin anzubieten.
Durch den spürbaren Unmut in dieser Situation deutet Lovemobil seine Haltung an: Die Frau, die (wie sie später erzählt) unter falschen Versprechungen in das Land gelockt und zunächst sexuell missbraucht wurde, hasst – jedenfalls in dem Moment – ihr Leben, ihren Beruf, die Freier. Weibliche Sexarbeit, das stellt Lovemobil klar, hat nichts mit weiblicher Lust oder Selbstbestimmung zu tun. Sondern mit männlicher Macht. Es wird in der Szene ein weiterer, wichtiger Punkt gemacht: Sie soll beweisen, dass ein Filmteam anwesend ist. Kamera und Regie sind unsichtbar und unhörbar, aber Milena bestätigt ihre Gegenwart, indem sie direkt zur Person hinter der Kamera spricht. Wer sich in den ersten Minuten des Films von Elke Lehrenkrauss wunderte, wie natürlich und offen die Protagonist:innen (neben Milena gibt es eine Sexarbeiterin aus Nigeria namens Rita, einen Bordellbesitzer, diverse Freier und die kettenrauchende Wohnwagenvermieterin Uschi) mit der Anwesenheit milieufremder Filmschaffender umgehen, den konnte das beruhigen. Lovemobil wurde von allen Beteiligten (Filmemacherin, Koproduzent NDR, Förderer) als Dokumentarfilm bezeichnet, lief mit dieser Etikettierung erfolgreich im Kino und auf Festivals. Anscheinend hatte die Regisseurin, wie sie behauptet hatte, besonders lange recherchiert, viel gedreht und ein besonderes Vertrauensverhältnis aufbauen können.
Doch all das war gelogen. Lovemobil ist ein Hybrid aus Reenactment und echten Szenen, das haben Recherchen des NDR ergeben und damit einen Skandal ausgelöst. Es stehen tatsächlich Wohnwagen mit Sexarbeiterinnen in Niedersachsen. Aber Rita, Milena, der Bordellbesitzer und einige der Freier sind Darsteller:innen. Laut einem Panorama 3-Beitrag wurden sie von der Regisseurin zu Dialogen und Handlungen instruiert und glaubten teilweise, in einem Spielfilm mitzumachen.
Nachgestellt und gelogen
Die Geschichte, die Lehrenkrauss ihren Ruf, ihre Preise (das Grimme-Institut strich die Nominierung, Lehrenkrauss gab den Deutschen Dokumentarfilmpreis zurück) und vielleicht ihre Zukunft als Regisseurin kostet, ist umso ärgerlicher, weil sie das Gegenteil von dem bewirkt, was sie beabsichtigte: die Haltung zur Ausbeutung in der Sexarbeit, die einfühlsame Darstellung, die den Protagonistinnen viel Raum gibt – all das ist geschenkt. Rita, die in einer Szene in einem Bordell nach Arbeit fragt, wird aufgrund ihrer Hautfarbe abgelehnt: Nicht-weißen Frauen geht es noch schlechter, wollte Lehrenkrauss ausdrücken. Der angebliche Bordellbesitzer behauptet im Panorama-Beitrag, dass er schon lange als Hausmeister arbeitet und nie so etwas Rassistisches sagen würde. Woher kommt die Hybris, so dreist zu lügen? Auch die betreuende Redaktion sei zur Verantwortung zu ziehen, las man in Kommentaren, und dass Dokumentarfilmer:innen permanent zu schlecht bezahlt würden. Natürlich tragen Redaktionen eine Mitverantwortung. Sie können aber, gerade wenn es um Nähe, um Vertrauen, um Sensibilität geht, nicht wie Wachhunde Gespräche belauern, Hintergründe der nicht immer legalen Umstände recherchieren, sich Hunderte Stunden Rohmaterial anschauen. Sie müssen, wie später das Publikum, dem Film glauben.
Es wird bei Lehrenkrauss einen Moment gegeben haben, an dem sie merkte, dass die ursprüngliche Absicht, einen Dokumentarfilm zu drehen, nicht durchzuführen war, vielleicht weil die (echten) Protagonistinnen sich als unzuverlässiger, unwilliger, ängstlicher als gedacht erwiesen. Vielleicht kam der Moment so spät, dass die bis dato geleistete Arbeit nichtig geworden wäre. Weil die Budgets für Dokumentarfilm wirklich zu gering und die Sendeplätze umkämpft sind, wird sich Lehrenkrauss nicht getraut haben, das Format ihres Films offiziell zu modulieren. Vielleicht befürchtete sie, dass er mit (gekennzeichneten) Reenactment-Szenen nicht die Durchschlagskraft haben könnte. Vielleicht nahm sie die Formatgrenzen aber auch einfach sportlich: Nachgestellte Szenen, unscharfe Vermischungen aus originalem und nachgedrehtem Material sind längst Standard in internationalen hybriden Produktionen. Der deutsche Film Schuss in der Nacht über die Ermordung Walter Lübckes stellt Verhöre dort nach, wo die Regie sie haben will. Operation Varsity Blues besteht vor allem aus nachgespielten Telefonaten in spekulativen Umgebungen.
Welchen Grund es immer auch hat, dieser Skandal kommt in einer Zeit, in der den Medien und dem Dokumentarbereich von allen möglichen Seiten Wahrhaftigkeit abgesprochen wird. In der die Relotius-Affäre die „Lügenpresse“-Rufer:innen bestätigt, in der es thematisch relevante, kleine Filme wie Lovemobil schwer auf dem Markt haben. Insofern hat Lehrenkrauss das Kind selbst in den Brunnen geworfen.
Kommentare 6
Im Fall »Lovemobil« ist – wie im einzelnen in dieser STRG_F-Doku nachzusehen – wohl das meiste dumm gelaufen. Wobei ich im konkreten Fall nicht Regisseurin Elke Lehrenkrauss allein den Schwarzen Peter zuschieben würde. Allerdings: Natürlich hätte sie die entsprechenden Szenen als gespielt ausweisen müssen.
Dumm an der ganzen Geschichte ist, dass ein Film über dieses Segment der Low-Budget-Prostitution nunmehr verbrannt ist. Sprich: nicht mehr über die desolaten Arbeitsbedingungen und Ausbeutungsverhältnisse geredet wird, sondern lediglich über das No-Go (nicht ausgewiesener) gestellter Szenen in einer Doku. Fazit: ein Anfängerfehler, gern auch subjektivem Tunnelblick geschuldet, der hier zu einer Art Relotius-Skandal aufgebauscht wird. Der Regisseurin jedenfalls ist zu wünschen, dass sie sich von diesen Turbulenzen nicht umhauen lässt und (auf bessere Art) mit engagierten Filmproduktionen weitermacht.
Liebe Frau Zylka, vielleicht sollte man Frau Lehrenkrauss doch zwei oder gleich fünf Grimmepreise verschiedenster Kategorien verleihen, die sie nur dann annimmt, wenn sie in Chris Marker- Preise umgenannt werden?
Beste Grüße
Christoph Leusch
http://www.tenhaven.net/der-fall-lovemobil-mehr-mut/
Das ist ein Kommentar des Dokumentarfilmers Jan Tenhaven, der Überlegungen in alle Richtungen dazu anstellt. Überhaupt gibt es eine breite Diskussion zu diesem Vorfall.
Wie "fängt" man Realität ein, wenn schon eine Kamera diese Realität verändert. Im Grunde hätte die Autorin mit offenen Karten spielen müssen. Der Film selbst ist ja unumstritten wirklich gut.
Zunächst einmal, die Branche "Film, Fernsehen", wozu auch der Dokufilm gehört, bietet außer für wenige, ganz schlechte Arbeitsbedingungen. 5 bis 10 Jahre investieren Autor:innen in ein Projekt mit unegwissem Ausgang, schultern die Recherchekosten. Dafür gibts dann 20-40.000 € (Fiktion mehr). Risiko haben alleine die Kreativen. Das ist jetzt keine Entschuldigung. Aber ich denke, die Autor:in hatte Angst mit dem Sender auszudiskutieren, dass das Projekt anders laufen wird bzw. vor einer Vertragsauflösung. Ansonsten, sorry, jeder der Szenen gesehen hat und vom Fach ist, merkt, dass das total gestellt und gescripted ist. Zeigt wieder einmal, wie wenig fachliche Kompetenz in den Sendern herrscht. Und auch, dass immer auf die Skandalpauke gehauen werden muss, die wesentlich leisere Realität mögen Eliten, dazu rechne ich mal die Beteiligten, nicht leiden. Es wäre spannend gewesen, warum die Prostutierten nicht vor die Kamera mögen, wären sie bereit gewesen, nur ihre Stimme aus dem Off zu geben oder etwa ein Tagebuch zu verfassen. Es hätte sehr viele Möglichkeiten gegeben, aber weder Autorin noch Sender sind bereit für das eigentliche Experiment, das Ungewisse...
Skandalpauke, Bedienung von Klischees, der Zuhälter ist auch Rassist. Merkwürdig ab wieder, das Spiegelbild des Kapitalismus wurde nicht thematisiert. Die einzig authentische Person ist Uschi. Und von der hätte man gerne mehr gewusst, wie kam sie in das Biz, wie haben sich Arbeitsbedingungen entwickelt. Macht sie das gerne oder war das zum Überleben oder beides etc., wie sieht sie Geschlechterverhältnisse, Machtverhältnisse, was ist Geld, wann ist Prostitution Prostitution oder ist das vielfacettig..
Ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung über eine Dokumentation, die sieben Stunden lang über die Pflegerinnen und Pfleger der Uni-Klinik Münster berichtete. Allerdings auf Pro Sieben.
Wie der Sender Pro Sieben, Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf mit einer Echtzeitreportage über eine Krankenpflegerin nebenbei die Irrtümer des deutschen Fernsehens offenlegen.
Zitat aus dem Beitrag
++ "Die beiden verlässlichen Unterhaltungskünstler Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf hatten in ihrer Sendung Joko & Klaas gegen ProSieben wieder mal eine Viertelstunde Sendezeit zur freien Verfügung, zuletzt widmeten sie die dem Thema Gewalt gegen Frauen oder den Geflüchteten in einem abgebrannten griechischen Lager. Diesmal zeigten die beiden eine Reportage aus der Uniklinik Münster, allerdings nicht 15 Minuten, sondern mehr als sieben Stunden lang.
Da ist ein besonderes, strahlendes Stück Fernsehen geglückt
Dort arbeitet Krankenpflegerin Meike Ista, die sich für den Film in der Frühschicht eine Kamera umgehängt hat. Das Fernsehpublikum steigt also mit ihr in der Dunkelheit aus dem winzigen Auto und begleitet sie mitten hinein ins Knochenmark- und Transplantationszentrum. Kaffeekochen, Handschuhe an, Fiebermessen, Handschuhe aus, Medikamente verteilen, Handschuhe an, Blutabnehmen, Handschuhe aus, Desinfizieren, Beraten, Saubermachen. Handschuhe an. Handschuhe aus. Echtzeit. Nähe. Unmittelbarkeit. Eine komplette Schicht. Der Abend verfliegt, die Nacht bricht an, Pro Sieben hat mehr als sieben Stunden Sendezeit freigeräumt, Pausen gibt es nicht, Werbung wird nur klein eingeblendet, Meike Istas Schicht pausiert ja auch nicht. " ++
Eine Reportage ohne Schnickschnack und ohne Scripts.
https://www.prosieben.de/tv/joko-klaas-gegen-prosieben/video/41-joko-und-klaas-15-minuten-live-pflege-ist-nichtselbstverstaendlich-clip
Hier sind die ersten 30 Minuten der siebenstündigen Reportage.