Wirtschaft verstehen

Superdemokraticos In den Neunzigern befolgten wir alle ökonomischen Rezepte – bis wir kollabierten. Erst dann erkannten wir, dass der Norden ebenfalls besiegt war

Im Februar 1999 kam ich zum ersten Mal nach Berlin, blieb einige Tage und kam zu dem Schluss, dass die Stereotype, jene vorgefertigten Bilder die wir voneinander haben, letzten Endes doch einen Sinn haben. Ich entdeckte, dass die Deutschen wirklich viel Bier trinken, große Ärsche und gerötete Wangen haben. Die Deutschen sind wahrhaftig ordentlich und reglementieren kleinlichst ihr Leben. Zu diesen Beobachtungen, ein wenig voreingenommen und hastig angestellt, kam eine weitere, die größeres Gewicht hinsichtlich meiner politischen Interessen bekam: Weshalb ist dieses Land so reich und meines im Vergleich so arm? Was könnten wir tun, um ebenso erfolgreich zu sein? Wir können ja nicht damit anfangen, Ärsche zu kopieren, eine Art und Weise zu trinken nachzuahmen oder einer Ordnung nachzueifern.

Ich bin aus dem Süden. Daher war ich mir bereits im Klaren darüber, dass vieles nur deshalb im Überfluss an einer Stelle vorhanden ist, weil es an anderer Stelle fehlt. Ich war mir im Klaren, dass Gerechtigkeit nicht blind – also unparteiisch – ist, und dass es einen Trick hinter dem frohlockenden Reichtum auf deutschen Straßen geben musste. Während ich mit der U-Bahn durch Berlin fuhr, überfiel mich eine kantianische Stimmung: Wenn die Deutschen so erfolgreich sind, schlicht weil sie Deutsche sind, würden wir es niemals sein, außer wir verwandelten uns in sie. Und: Wie wäre eine deutsche Welt? Wäre dies die Welt, in der ich leben möchte? Nein, natürlich nicht, ich bin Lateinamerikaner, und wir haben andere Stereotype zu verteidigen.

Die Wahrheit ist: Es ist nicht so, dass die Deutschen erfolgreicher in allem wären. Allerdings hat die Tatsache, dass sie sich an relativ bequemen Leben ohne größere ökonomische Schwierigkeiten erfreuen, sie vergessen lasssen, welche Probleme der Kapitalismus mit sich bringt. Sie bemerken nicht, dass sie – egal, wie viel sie kaufen – ausgebeutet, kontrolliert und unterworfen werden. Der Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden ist, dass unten die Ausbeutung offensichtlicher ist, weil sie durch eben jene verstärkt wird, die der Norden über uns ausübt. In den 1990ern befolgten wir alle Rezepte, die von dort kamen – bis wir kollabierten.

Nach 9/11 hat die merkantile Allmacht aufgehört, Lateinamerika Aufmerksamkeit zu schenken, um sich dem Orient zuzuwenden, und alles entspannte sich ein wenig. Auf uns gestellt, mit einer ökonomischen und sozialen Krise, die uns zwang, die Tiefen des Konfliktes zu ergründen, sahen wir zum ersten Mal, dass der Norden ebenfalls besiegt war. Dass sich der Norden in eine Kolonie der multinationalen Unternehmen, der Bürokratie und seiner eigenen Macht verwandelt hatte. Wir Lateinamerikaner begannen, an jenes Konzept zu glauben, das Simón Rodriguez damals um 1800 als Grundlage unserer Zukunft vorschlug: „Entweder wir erfinden oder wir versagen.“

Die Vereinigten Staaten und Europa taumeln heute und ihre Bevölkerung schaut gen Süden und fragt sich: Wie haben das die Lateinamerikaner wohl gemacht? Ich lade sie ein, in Buenos Aires mit der U-Bahn zu fahren und die Antwort zu suchen.

Agustín Calcagno, geboren 1979 in Buenos Aires, Argentinien. Er ist Journalist für verschiedene Medien, Erzähler und Politologe und schreibt unter anderem das Blog calcagnocomolasagna.blogspot.com


Auf schreiben 20 lateinamerikanische und deutsche Autorinnen und Autoren unter 40 Jahren von Juni bis Oktober 2010 über ihren Alltag. Sie erzählen in Blog-Einträgen von persönlichen Erfahrungen und Realitäten, darüber wie sie in ihren Ländern Geschichte, Sexualität, politische Teilhabe und Globalisierung wahrnehmen. Alle Texte werden ins Deutsche übersetzt. Eine Auswahl finden Sie auf freitag.de/superdemokraticos ebenso wie alle Blogs aus der Freitag-Community zum Thema Lateinamerika. Wer selbst dort erscheinen will, versieht seinen Blogeintrag auf freitag.de mit dem Tag superdemokraticos.

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Übersetzung: Marcela Knapp

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