Alles beginnt mit der Adorno-Ampel. Ganz positiv hat der sonst kritsche Gelehrte sich zwischen 1958 und 1962 immer wieder dafür eingesetzt, dass am Frankfurter Institut für Sozialforschung eine Ampel aufgestellt werde, denn die Professoren und Studierenden, die beim Gehen ihrem Beruf nachgingen, nämlich in Gedanken zu sein, liefen Gefahr, überfahren zu werden. Doch erst 1987 ist – lange nach seinem Tod – dem Wunsche willfahren worden. Und fast auch endet es mit Theodor W. Adorno, mit dem TWA-Platz, auf dem der Schreibtisch des Denkers hinter vier Glasscheiben steht, die gern mal mit Steinen beworfen werden.
Nun ja, Frankfurt! Wie wäre es, wenn man statt durch die Buchmesse geschoben zu werden, mal durch die Stadt schlenderte? Literarisches gäbe es auch so genug. Das listet jedenfalls unter dem seriellen Titel 111 Orte in … ein intelligenter und kurzweiliger Führer durch ein unbekannteres Frankfurt auf. Der ist höchst aktuell, einzig Eberhard Schlotter, der Castor und Pollux im Foyer der Forums-Hochhäuser gestaltete, ist inzwischen leider gestorben. Man findet die Hochhäuser am Platz der Einheit, nahe der Messe.
Also zur Literatur: Ja, natürlich das Grab von Goethes Mutter, dazu die Goethe-Apotheke, das Literatenviertel, wo einem nun Jakob Arjouni und Peter Kurzeck nicht mehr begegnen werden, der Hessische Rundfunk seligen Geistesangedenkens und noch immer architektonisch anrührend, das Voltairegefängnis, mit nachgetragenem Naziadler, der neue Börneplatz, die Romanfabrik, das Schiller-Denkmal (na, ja) oder das Stadtschreiberhaus, um nur ein paar Vorschläge aufzugreifen. Einen guten Überblick verschafft man sich am Citymodell in der Kurt-Schuhmacher-Straße. Die Neue Frankfurter Schule hat auf den Seiten 36, 90 und 180 ihre Visitenkarte hinterlassen, und wer sich in die Büsche schlagen muss, ist beim Pinkelbaum gut aufgehoben, der sich selbst benässt.
Noch mehr? Oder nun doch zur Buchmesse? Wenn zur Messe, dann stellt sich natürlich die Nahrungsfrage, denn nach dem Trinken ist Essen Buchmessenthema Nummer zwei. Von immer mager werdenden Standhäppchen und frugaleren Abendempfängen allein lässt sich kaum leben. Die Frankfurter Küche wiederum ist (abgesehen von der Grie Suhhß oder Soß, wie auch immer die Siebenkräutermelange, der sogar ein Denkmal gewidmet ist, ausgesprochen wird) mehr ein Fall musealer Bewunderung. Im Ernst-May-Haus in Heddernheim kann man diese Avantgardistin der modernen Einbauküche besichtigen. Einst gedacht fürs aufstrebende Proletariat, das freilich oft planwidrig einen Esstisch in die Küche zu zwängen versuchte, ist sie von heute aus gesehen ein Stück inneneingerichteter Nostalgie. Also zur Nahrungsaufnahme: Die besten Schnitzel soll’s im Zum Kuckuck geben, nahe den Andreas-Baader-Gedenkgaragen. Und die beste Messewurst bei Best Worscht 1, nahe dem Campus West. Und nach Toresschluss kann man sich noch vor das Nirtribitthaus stellen. Wer anderen Service will, muss halt woanders anstehen, dies hier ist jedenfalls ein sehr gelungenes Exemplar von Stadtführer.
Es ist schon kurios, dass ein Buch über den Gotthard zur Grundausstattung der Bibliotheken von 500 Grandhotels und der Bordbüchereien der 100 wichtigsten Passagierdampfer der Welt gehört haben soll. Und dabei war Carl Spitteler, der dieses Buch 1897 im Auftrag der Gotthardbahn-Gesellschaft für 40 Monatslöhne eines Stollenarbeiters am Gotthardtunnel schrieb, füglich Bahnfahrt und Fußgebrauch darin vereinte, noch gar nicht nobilitiert. Der Preis kam nämlich erst 1919 – und eher für seine Neutralitätsaufrufe. „Wenn eine Gegend so beschaffen ist, dass der Fußmarsch früher ermüdet, als er fördert, mit anderen Worten, dass nach stundenlangem Wandern noch ungefähr das nämliche Landschaftsbild vor Augen steht wie am Anfang des Marsches“ – also das Panorama, das dem Transatlantikreisenden über Tage hinweg beschieden war –, dann, so messerscharf Spitteler, „ist die Wagenfahrt angezeigt“.
Andererseits sind bei der Fahrt durch den 1882 fertiggestellten Tunnel zu den Lawinen von Airolo die Wagenfenster zugefroren, was aber die Vorstellung der Landschaft umso intensiver werden lässt. Den Lokalitäten widmet Spitteler sich, aber nicht den Restaurants, dafür kümmert er sich um Phänomene wie Föhn oder Seeschnaken. Schließlich auch solche Weisheiten: „Der Süden ist immer da, wo man noch nicht hingekommen ist.“ Ein wunderbar betuliches Lesevergnügen, diese Neuauflage.
Der Publizist Erik Regerwar der schärfste Kritiker der damaligen Revier- und Kirchturmpolitik, des Durchwurstelns und des Kotaus vor den Industrieherren, aber auch der Nazis. Nach 1933 hat er sich – nach kurzem Ausweichen in die Schweiz – in Berlin durchwursteln müssen. Am Ende drohte ihm, zum Volkssturm eingezogen zu werden. Er wich an den Rand aus, ins Örtchen Mahlow. Dort erlebte er das Nazi-Ende und die Ankunft der Russen. Aus seinem Nachlass hat Andreas Petersen nun ein Tagebuch der Zeit von April bis Juni 1945 ausgegraben. Ein Exemplar der russischen Übersetzung seines Ruhrrevier-Romans Union der festen Hand schützte das Häuschen vor Plünderung und seine Frau vor Vergewaltigung. Reger ist übrigens mit den Vergewaltigten mitleidlos, da müsse man eben den zwölfjährigen Jubel für die Nazis ausbaden.
Vor allem mokiert er sich über die ehedem Volksgenossen, die nun ebenso lauthals wieder mit Guten Morgen grüßen wie noch vor Kurzem mit Heil Hitler. Die Russen betrachtet er distanziert, auch fasziniert. Ein in Lakonie und Ingrimm bemerkenswertes Zeugnis dessen, der da schon an großen publizistischen Plänen arbeitete, am Konzept eines volkspädagogischen Verlagsimperiums. Daraus wurde nichts. Immerhin aber wurde er bald zum Mitbegründer und Chefredakteur des Tagesspiegels. Ein unbequemer, unbestechlicher, zwar eher nationalliberaler, aber strikt demokratischer Kopf. Vor 60 Jahren ist er gestorben.
Vom Gotthard zum Atlantik könnte man im Ruhrgebiet vorbeischauen. Auch hier spielt die Eisenbahn eine große Rolle, jedenfalls in der Zeit, in der man die neue Industriestadt konzipierte. Die war gar nicht anders denn als Stadtverbund zu denken. In Realität war der „dynamischste Wirtschaftsraum auf der Welt“, sagte der Geopolitiker und Wirtschaftsgeograf Hans Spethmann 1929, ein Durcheinander von verhuckten Dörfern und wuchernden Industrieanlagen. Kein Wunder, dass man in eine generösere und übersichtlichere Zukunft wollte. Ob es sich dabei wirklich um einen „Dritten Weg“ der Moderne handelte, mag dahingestellt sein, jedenfalls ist höchst erstaunlich und nachdenkenswert, was Renate Kastorff-Viehmann anhand der Konzepte von vor allem Theodor Reismann-Grone, Paul Krannhals oder Oswald Spengler herausgearbeitet hat. Zwar dissertationskonventionell brav segmentiert, doch ein Musterstück bildgestützter Aufarbeitung abgesunkener Stadtplanungsgeschichte, das weit über das Ruhrgebiet hinaus interessieren müsste.
111 Orte in Frankfurt, die man gesehen haben muss Tom und Rike Wolf Emons 2010, 240 S., 14,95 €
Der Gotthard Carl Spitteler und Esther Scheidegger Europa Verlag 2014, 240 S., 24 €
Die neue Industriestadt. Ein „Dritter Weg“ der Moderne Renate Kastorff-Viehmann, klartext 2014, 320 S., 24,95 €
Zeit des Überlebens. Tagebuch April bis Juni 1945 Erik Reger Transit 2014, 160 S., 18,80 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.