Mumia Abu-Jamals Exekution war für den zweiten Dezember festgesetzt, da gab ein Gerichtsurteil dem wegen Polizistenmordes zum Tode verurteilten Afro-Amerikaner eine neue Chance. Bundesrichter William Yohn hat den Hinrichtungsbefehl vorläufig außer Kraft gesetzt, um zu prüfen, ob mögliche Verletzungen der verfassungsmässigen Rechte des Verurteilten ein neues Verfahren rechtfertigen. Ein seit 1996 gültiges Gesetz zur "Effektivierung der Todesstrafe" schränkt die Befugnisse der Bundesrichter jedoch stark ein. Das Berufungsverfahren könnte sich noch Jahre hinziehen.
Die Fronten in der amerikanischen Öffentlichkeit verhärten sich zu sehends. Freunde des ermordeten Polizisten fordern eine rasche Hinrichtung, und viele Solidaritätsaktivisten glauben so inbrünstig an Abu-Jamals Unschuld wie Opus Dei an die Unfehlbarkeit des Papstes. So fällt die Suche nach der Wahrheit schwer, heute noch viel mehr als beim Prozess vor 17 Jahren.
Die Mumia-Aktivisten demonstrieren für "Gerechtigkeit" und "Freiheit", obwohl ersteres dem zweiten durchaus im Wege stehen könnte. Ob Abu-Jamal in der aufgeheizten Atmosphäre von Philadelphia damals einen fairen Prozess bekommen hat, bleibt tatsächlich fragwürdig. Die Faktenlage bezüglich seiner Schuld oder Unschuld aber ist lange nicht so eindeutig, wie die Verteidigung es gern hätte. Trotz mancher Ungereimtheiten könnte Abu-Jamal tatsächlich eine Mörder sein.
Abu-Jamals Aussonderung als Symbol gängiger linkslastiger Vorstellungen vom guten Afro-Amerikaner und der bitterbösen rassistischen Justiz dürfte der Anti-Todesstrafen-Bewegung langfristig wenig helfen. Denn die muss sich aus ethischen Gründen für Abu-Jamal und andere Todeshäftlinge einsetzen, ganz gleich, ob sie schuldig sind oder nicht. (Und die meisten der Männer und Frauen in den Todestrakten sind nun mal im Sinne des Gesetzes schuldig.) An Glaubwürdigkeit verliert die Bewegung, wenn sie alle Schriften der Verteidigung für bare Münze nimmt. Die ausländische Anti-Todesstrafen-Bewegung findet in den USA ohnehin kaum Gehör. Da mögen Intellektuelle einen Aufruf unterzeichnen und hinterher ein gutes Gefühl haben: Der Gouverneur von Pennsylvania, der den Hinrichtungsbefehl unterschreibt, verliert keinen Schlaf.
Auf den Seitenaltären katholischer Kirchen standen vor Jahrzehnten oft die "Nickneger" - Keramikfiguren mit einem Schlitz, in den man Zehnpfennigstücke für die Mission in Afrika werfen konnte. Die Figur hat dann zum Dank genickt. Dieses Bild vom hilfsbedürftigen Negerlein hat anno dazumal ins Weltbild gepasst. Auch in Teilen der linkskritischen Szene gibt es Vorurteile, anderer Art, aber trotzdem irreführend. Das vom edlen Indianer zum Beispiel, der immer ökofreundlicher und spiritueller ist als sein bleicher Bruder. Oder eben das vom ewig unterdrückten und daher hilfsbedürftigen Afro-Amerikaner, es sei denn, er macht Revolution. Und dann wird oft reflexhaft unterstützt, selbst wenn die "Revolutionäre" so kulthaft vorgehen wie die mit Abu-Jamal verbundene "Move"-Gruppe. Revolutionsromatik mag keine Details, etwa dass Kinder bei "Move" allem Anschein nach misshandelt worden sind, oder dass die Black Panthers, denen Abu-Jamal als Teenager angehörte, nicht nur mit Spielzeugpistolen geschossen haben.
Dezember 1981. Philadelphia nennt sich "City of brotherly love", ist aber alles andere als die "Stadt der Nächstenliebe". Die Polizei trägt das Erbe des 1979 ausgeschiedenen Bürgermeisters Frank Rizzo im Sturmgepäck. Rizzo hätte einen guten Junior-Mussolini abgegeben, ein weisser Haudegen, mit sehr selektiver Law and Order-Politik zu Lasten der schwarzen Bevölkerung. Polizeibrutalität war an der Tagesordnung. Es knisterte zwischen Schwarz und Weiß. 1978 wurde ein Polizist bei einer Konfrontation mit der Zurück-zur-Natur-Sekte "Move" erschossen, deren Mitglieder sich bewaffnet und in einem Haus verbarrikadiert hatten.
"Move" will "Revolution" gegen eine "System" machen, das den Menschen zugrunde richte. Ob der Todesschuss von "Move"-Leuten kam oder versehentlich von der Polizei selber, bleibt unklar. Dennoch erhielten mehrere "Move"-Mitglieder lange Haftstrafen. Einige von ihnen sollen zuvor von Polizisten misshandelt worden sein.
Mumia Abu-Jamal arbeitet 1981 als Taxifahrer; wegen seiner allzu unkritischen Berichterstattung über die "Move"-Gruppe hatte er seinen Reporterjob bei einem örtlichen Rundfunksender verloren. Am 9. Dezember 1981 kommt Abu Jamal kurz vor vier Uhr morgens dazu, wie sein Bruder von dem weißen Polizisten Daniel Faulkner festgenommen wird - oder geschlagen, oder beides. Abu-Jamal steigt aus, ein paar Minuten später liegt Faulkner mit aus nächster Nähe abgefeuerten Schüssen tot am Boden. Neben dem ebenfalls angeschossenen Abu-Jamal findet die Polizei dessen Revolver vom Kaliber 38 und fünf leeren Patronen auf der Straße. Der Taxifahrer Robert Chobert, der vor dem Mord ein paar Meter hinter Faulkners Auto geparkt hatte, sagt den Beamten sofort, dass er gesehen habe, wie Abu-Jamal Faulkner in den Kopf schoss.
Für die Staatsanwälte war der Prozess ein Heimspiel. Sie waren zufrieden mit der Beweislage, und hatten als Richter den ausgesprochen polizeifreundlichen Albert Sabo zugeteilt bekommen, unter dessen Vorsitz inzwischen mehr als 30 Todesurteile gefallen sind. Der Staatsanwalt erzählte demagogische Schauerstories von Abu-Jamals politischer Vergangenheit als Black Panther.
Eigentore schoss freilich auch Abu-Jamal, der sich mit der Zuweisung seines Pflichtverteidigers Anthony Jackson erst einverstanden erklärte und ihn dann als "Affen" beschimpfte. Einmal wollte er sich selber verteidigen, dann forderte er, dass der "Move"-Gründer John Africa ihn vertreten solle, obwohl der kein Anwalt war. Tagelang Chaos, Abu-Jamal wurde wegen seiner Ausbrüche mehrmals ausgeschlossen, und Richter Sabo bestand letztendlich auf Jackson als Verteidiger.
Nach langem hin und her wählten Staatsanwalt und Verteidigung neun weiße und drei schwarze Geschworene aus. Mehrere Augenzeugen sagten gegen Abu-Jamal aus, die Verteidigung agierte konfus. Nach mehrwöchigem Prozess und drei Stunden Bedenkzeit kamen die Geschworenen einstimmig zum Schuldspruch, und tags darauf verurteilten sie Abu-Jamal zum Tode.
Die "Free Mumia Bewegung" begann eigentlich erst mit dem Einstieg des renommierten linken Verteidigers Leonard Weinglass im Jahr 1992. Weinglass hat Beziehungen zu Menschenrechtsorganisationen - und er ist ein außerordentlich kompetenter Anwalt. Man kann einem Verteidiger das Recht einräumen, Fakten zugunsten seines Mandanten zu drehen und zu wenden - zumal, wenn er mit der übergroßen Macht eines Staates konfrontiert ist, der auf viel größere Ressourcen zurückgreifen kann, und sich - wie im Fall Abu-Jamal geschehen - nicht scheut, belastende Aussagen ein bisschen zurechtzubügeln.
Weinglass listete eine Reihe möglicher Verfassungsbrüche und Verfahrensfehler auf (Abu-Jamals Selbstverteidigung hätte erlaubt werden sollen, schwarze Geschworenenkandidaten seien unfair ausgeschlossen und Zeugen der Verteidigung nicht zugelassen worden), die Richter Sabo 1995 dazu zwangen, Abu-Jamals Hinrichtung aufzuschieben, weil Weinglass "ganz offensichtlich" mehr Zeit zur Verteidigung brauche. Die "Free Mumia"-Aktivisten hatten in den Wochen vor der Urteilsverkündung mobilisiert, Sabo von diesem Fall abzuziehen, da von ihm kein faires Urteil zu erwarten sei.
Seitdem hat Weinglass vermeintliche Entlastungszeugen vorgeführt und sich dabei als ein Meister im selektiven Zitieren von Aussagen gezeigt. So behauptet der Verteidiger, dass die wirklichen Täter weggerannt seien, und zitiert entsprechende "Augenzeugen". Darunter bizarrerweise auch den Taxifahrer Robert Chobert, der gesagt habe, dass der Schütze sofort weggerannt sei. Was Weinglass nicht erwähnt, ist, dass Chobert keine unbekannte Person, sondern Abu-Jamal als Todesschützen nach der Tat "ein paar Schritte" wegrennen sah. Abu-Jamal und dessen Bruder, der wohl wichtigste (Entlastungs?-) Zeuge schweigen bis heute zum Tatverlauf.
Aber selbst wenn die Polizei Zeugenaussagen manipuliert hat, beweist das nicht Abu-Jamals Unschuld. Drei wichtige, Abu-Jamal belastende Aussagen - die des Taxifahrers, eines dazugekommenen Passanten und einer Prostituierten - wurden innerhalb von 30 Minuten nach dem Mord abgegeben. Kann die Polizei diese Aussagen wirklich so schnell zurecht gedrechselt haben? Als Trumpfkarte kommen Befürworter der Unschuldsthese oft mit der Geschichte, dass die Todeskugel Kaliber 44, Jamals Revolver aber Kaliber 38 gewesen seien. Diese Behauptung gründet sich einzig und allein auf eine Notiz, die der Leichenbeschauer James Hoyer (also kein Ballistikexperte) kritzelte, nachdem er die Kugel mit einem gewöhnlichen Lineal gemessen hatte. Hoyer selber sagt inzwischen, seine Annahme sei falsch gewesen, und andere Ballistiktests zeigen, dass die Todeskugel Kaliber 38 hat und mit Abu-Jamals Revolver übereinstimmende Charakteristiken aufweist.
Das Konzept Gerechtigkeit versagt letztlich in einem Fall, in dem ein Todeshäftling seit 17 Jahren in einer Zelle "so groß wie ein Badezimmer" gelebt hat, und bei einem Berufungsverfahren, das in einer überheizten Atmosphäre tiefen Misstrauens stattfindet. Der Fall ist ein Musterexempel gegen die Todesstrafe. Sie funktioniert nicht, polarisiert ins Extreme, und hilft niemandem, außer dass sie vielleicht den Kollegen des ermordeten Polizisten Rache und der Witwe eine Form der Genugtuung verschafft. Maureen Faulkner ist sichtlich betroffen von dem, was sie als zynische Manipulationen und Hetze mancher Solidaritätsaktivisten sehen muss, die so tun, als sei am 9. Dezember 1981 nicht jemand umgebracht worden.
In den USA gibt es trotz einer Verschärfung der Todesstrafengesetze und steigender Exekutionszahlen tatsächliche Fortschritte im Kampf gegen die Todesstrafe, wenn auch nur sehr kleine. Die öffentliche Unterstützung von Hinrichtungen hat in letzten Jahren nachgelassen. Immer mehr setzt sich die Ansicht durch, dass geistig Behinderte nicht hingerichtet werden sollten. In mehreren Bundesstaaten machen sich die Parlamente Gedanken, ob diese extremen Sanktionen angesichts Dutzender erwiesener Fehltodesurteile in den vergangenen Jahren überhaupt zur Anwendung gebracht werden sollten. Kirchen und Menschenrechtler stellen immer lauter in Frage, ob die USA wirklich eines von nur sechs Ländern sein sollten, in denen zur Tatzeit Minderjährige hingerichtet werden.
Solidaritätsaktivisten werden jetzt aufgefordert, an Richter Yohn zu schreiben - obwohl der gesagt hat, er werde die Briefe überhaupt nicht lesen. Am produktivsten wäre es wohl, bei der Solidaritätsrhetorik die Forderungen nach einem neuen Verfahren von den Unschuldsbehauptungen zu trennen. Und die deutsche Anti-Todesstrafen-Bewegung kann wohl am meisten ausrichten, wenn sie in Berlin verlangt, dass nicht nur Schröder Co., sondern auch deutsche Unternehmer die Todesstrafe bei Sitzungen mit ihren amerikanischen Freunden immer wieder auf die Tagesordnung setzen und Konsequenzen folgen lassen, wenn die amerikanische Seite abwiegelt oder sagt, sie könne doch nichts tun.
Ob und wieviel die "Free Mumia" Kampagne" dem Todeshäftling selber hilft, lässt sich schwer abschätzen: Einerseits kann Abu-Jamal nun nicht mehr still und leise hingerichtet werden wie mehr als 70 andere Verurteilte in diesem Jahr, andererseits ist der Fall jetzt so "politisiert", dass ein Gericht größten Mut aufbringen müsste, um ihn neu aufzurollen.
@ Infos über Abu-Jamals vermeintliche Unschuld findet man unter www.mumia.org
@ Die Gegenseite veröffentlicht detailliertes Material unter: www.danielfaulkner.com.
On Death Row - In der Todeszelle
9. 12. 1981: Mord an dem Polizisten Daniel Faulkner.
1982: Ein Geschworenengericht in Philadelphia verurteilt Abu-Jamal zum Tode.
1989: Der Oberste Gerichtshof des US-Bundesstaates Pennsylvania bestätigt das Urteil.
1990: Abu Jamals Berufung vor dem Obersten Gerichtshof der USA scheitert.
1995: Der Antrag Abu-Jamals auf ein neues Gerichtsverfahren wird abgelehnt. Der Gouverneur von Pennsylvania setzt den ersten Hinrichtungstermin für den 17. August fest. Die Exekution wird später verschoben und Abu-Jamals Antrag auf erneute Beweisaufnahme stattgegeben.
Oktober 1998: Der Oberste Gerichtshofshof von Pennsylvania lehnt sämtliche neuen Beweisanträge der Verteidigung ab.
4. 10. 1999: Der Oberste Bundesgerichtshof verweigert die Wiederaufnahme des Falls Mumia Abu-Jamal. Der Gouverneur von Pennsylvania legt einen zweiten Hinrichtungstermin für den 2. Dezember 1999 fest. Daraufhin erfolgt eine Petition der Verteidigung, das gesamte Verfahren neu aufzurollen, weil die Inhaftierung Abu-Jamals gegen die Verfassung verstößt.
26. 10. 1999: Bundesrichter William Yohn ordnet den temporären Aufschub der Hinrichtung an.
Dezember 1999: Die Verteidigung muß ihren Antrag ausführlich schriftlich begründen.
Februar 2000: Stellungnahme der Staatsanwaltschaft.
März 2000: Rückantwort der Verteidigung und mögliche Entscheidung des Richters.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.