Für mich, genauso wie für die Mehrheit meiner Mitbürger, ist der "neue Russe" vor allem - eine Witzfigur. Alle haben wir Mitte der Neunziger sehr über Geschichten gelacht wie die vom "neuen Russen", der sich auf den Kanarischen Inseln in die Sonne legt, ohne sein himbeerfarbenes Jackett auszuziehen - er wollte sein Image nicht beschädigen. Oder im Mercedes 600 durch die Gegend fährt, flankiert von einem Sanitäts- und einem Feuerwehr-Wagen - er hat die Straßenkontrollen satt, immer soll er das Verbandskästchen und den Feuerlöscher vorweisen. Oder darüber, dass der "neue Russe" beim Erzählen beide Hände, aber nur drei Worte gebraucht: Ich - ihn - Paff.
Keinen von diesen Menschen habe ich selber gekannt - die Hochschule, an der i
, an der ich arbeite, ist einfach zu weit entfernt von den Kanaren und keiner fährt hier im Jeep zur Arbeit. Und trotzdem: es gab sie, die plötzlich reich Gewordenen und nicht umsonst machten sie sehr bald von sich reden.Von den "alten Russen" wurden sie zunächst mit einer Mischung aus Verachtung und heimlicher Neugier beobachtet. Wie sonst hätte man sich gegenüber Groß- und Kleingangstern verhalten sollen? Die einen verdankten ihren Reichtum dem mehr oder weniger organisierten Verbrechen, die anderen der Protektion der Jelzin-Familie oder anderen Staatsprivilegien. Kaum besser angesehen waren die fliegenden Händler, die für eine begrenzte Zeit die unermesslichen russischen Lande ausfüllten mit zweifelhaftem chinesischem Leder, Second-Hand-Artikeln aus Deutschland und "fast" echtem Kristall aus der Türkei. Soziologen - und mit ihnen die besorgten Eltern - fassten sich vor Schreck an den Kopf angesichts folgender Umfrageergebnisse: 80 Prozent der Schüler gaben als Berufswunsch an, Gangster oder Prostituierte werden zu wollen.Mit der Jahrtausendwende allerdings begann sich das Bild zu wandeln. Auf einmal schien es so, als sei das Schlimmste überstanden. Und dementsprechend veränderte sich auch das Image des "neuen Russen". Als erstes reagierte wie immer die "mündliche Folklore", die Witzkultur. Es tauchten Scherze auf wie der vom "neuen Russen", der sich eine Stradivari-Trommel gekauft habe. Oder darüber, wie sich einer empört, dass man ihm im Computerladen nicht nur die teuerste Technik angedreht habe, sondern auch noch eine Unterlage für eine Maus! Ganz offensichtlich hat der "neue Russe" inzwischen sein himbeerfarbenes Jackett ausgezogen, die dicke Goldkette vom Hals genommen, ist aus dem Jeep gestiegen, versucht Fremdwörter zu lernen und entdeckt die Vorzüge der Computer-Technik! Nach wie vor hat er zwar viel Geld, aber anscheinend muss er es nicht mehr sofort ausgeben, sondern investiert in Bildung.Das wahre Leben ist in dieser Hinsicht sogar noch vielgestaltiger und dynamischer. Viele der "neuen Russen" der ersten Generation lebten zwar in Saus und Braus, aber nicht lange. Andere kamen etwas zur Ruhe und stiegen ins große Geschäft ein. Und ein paar kehrten einfach dorthin zurück, woher sie gekommen waren - ins kleinkriminelle Milieu oder den bürokratischen Apparat.Nahezu unbemerkt wuchs derweil eine neue Generation "neuer Russen" heran. Sie haben wenig gemein mit den "neuen Russen" der neunziger Jahre. Die Berufsziele Gangster und Prostituierte rufen bei der Jugend schon nicht mehr denselben Enthusiasmus hervor. Heute geben sie Manager, Programmierer, Ingenieur, Werbefachmann, Jurist oder auch - so erstaunlich man das finden mag - Geisteswissenschaftler als Traumberuf an.Diese Generation überrascht ihre Väter durch Pragmatismus und Lebenstüchtigkeit. Für sie scheint normal, was ihren Eltern nie in den Kopf gekommen wäre. Zum Beispiel, von Tscheljabinsk bis Münster zu fahren - auf Billig-Buslinien. Auf meine Frage, weshalb? antwortet der junge Mann: "Ein Freund von mir studiert dort, ich möchte mich an der Uni umsehen und wenn´s mir gefällt, bleibe ich ein, zwei Jahre." Oder sie arbeiten ein Jahr in England auf einem Bauernhof und gestalten anschließend den eigenen um, wie die Tochter von Freunden. Oder mein Neffe, der ein zehnmonatiges Stipendium in den USA hat sausen lassen, um seine eigene Software auf dem russischen Markt zu etablieren. Den alten russischen Eltern erscheinen diese Kinder manchmal wie Außerirdische. Meinen Neffen halte ich sowieso für einen ausgemachten Irren. Und dann sprechen diese Außerirdischen auch noch mehrere Fremdsprachen und bewegen sich im Internet wie Fische im Wasser.In den Spuren der 20-Jährigen begannen sich auch einige der "alten Russen" zu verändern: Einer meiner Nachbarn wurde aus seinem vor sich hinsterbenden chemischen Forschungsinstitut entlassen und macht nun dasselbe, nur für erheblich mehr Geld bei einer Pharmafirma. Einer meiner Studienkollegen aus der Musikwissenschaft absolvierte ein weiteres Hochschulstudium, stieg von Jeans auf Anzug um und arbeitet jetzt als Chef der Rechtsabteilung in einer Bank. Der Strom der Informatiker, der früher nur eine Richtung kannte - gen Westen, je weiter je besser, mit Endstation Silicon Valley, ist fast versickert. Wozu weit reisen, wenn man seine bis 4.000 Dollar und mehr auch in Moskau verdienen kann.Natürlich sind das noch Einzelbeispiele. Doch für mich sind genau das heute die "neuen Russen". Keine Witzfiguren, sondern reale Gestalten. In den großen Städten wird die Grenze zwischen alten und neuen Russen immer durchlässiger. Ist das gut oder schlecht? Einerseits natürlich schlecht, wenn man an die langen nächtlichen Gespräche in Moskauer Küchen denkt, wo bei Tee und Zigaretten bevorzugt die großen Menschheitsprobleme gelöst wurden. Heute dagegen findet man die Namen angesehener Intellektueller immer häufiger in bunten Zeitschriften. Die erneuerten alten Russen haben sich aus den Küchen ins öffentliche Leben gestürzt und tauchen nicht selten dort auf, wo das Image nun wichtiger ist als das Ansehen. Aber natürlich hat das auch sein Gutes. Die Mehrheit der Intelligenzija bringt einigermaßen glücklich den frisch erworbenen Wohlstand mit dem tradierten geistigen Nonkonformismus zusammen - und hält sich dafür von jeglichem politischen Engagement fern.In Zeiten des Umbruchs nahm die russische Gesellschaft neue soziale Gruppen immer sehr angespannt auf. Einst weigerten sich die Bojaren, ihre Bärte abzuschneiden, und wollten nichts mit dem neuen Dienstadel zu tun haben. Anderthalb Jahrhunderte später mussten diese Adligen mit ansehen, wie einige ihrer ehemaligen Leibeigenen reich wurden und ihnen gar den Kirschgarten abkauften. Von den sozialen Umwälzungen nach der Revolution ganz zu schweigen! Doch noch jedes Mal gelang die Veredelung und Zivilisierung der "neuen Russen" schlussendlich. Ich weiß selbst schon nicht mehr, wer ich bin. Nach meiner Bezahlung zu urteilen, gehöre ich zu den alten Russen. Aber die neuen Russen vom Beginn des dritten Jahrtausends rufen bei mir keine Angst oder Abneigung mehr hervor, sondern eigentlich eher Hoffnung und Sympathie.Übersetzung aus dem Russischen von Barbara SchweizerhofIrina Susidko ist Musikwissenschaftlerin und arbeitet seit 20 Jahren an der Gnessins Akademie für Musik in Moskau.