Was am 30. September im Georgssaal des Kremls Abgeordnete der Staatsduma, des Föderationsrates und Gesandte der russischen Elite zu hören bekamen, geriet zur bisher schroffsten Kampfansage an den Westen. Wladimir Putin nutzte die Unterzeichnung eines Vertrages, der die Annexion der größtenteils besetzten ostukrainischen Regionen Lugansk, Donezk, Saporoschje und Cherson regeln soll, zur Generalabrechnung. Der Westen, so Putin, wolle Russland „schwächen und zerfallen sehen, wovon er immer geträumt hat“. Er sei darauf aus, „jenes neokoloniale System“ zu erhalten, das es ihm gestatte, sein parasitäres Dasein zu fristen und die Welt auszuplündern „zugunsten der Macht des Dollars und eines technologischen Diktates“.
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Ein hybrider KriegDies führe zum totalen Souveränitätsverlust von Staaten. Die „herrschenden Kreise“ dort hätten „freiwillig zugestimmt, Vasallen zu werden“, um „ihren Vorteil“ daraus zu ziehen. In der „Gier“ westlicher Eliten lägen „die wahren Gründe für den hybriden Krieg, wie ihn der kollektive Westen gegen Russland führt“. Putins Fazit: „Sie wollen uns nicht als freie Gesellschaft sehen, sondern als eine Menge seelenloser Sklaven.“Die westlichen Eliten, so der russische Präsident, errichteten eine „Hegemonie“ als „Diktatur“. Diese zeigten einen „deutlich ausgeprägten Charakter von Totalitarismus, Despotismus und Apartheid“ – sie seien „kolonisatorisch“. Putin betonte, „dass unser Land im 20. Jahrhundert die antikoloniale Bewegung angeführt“ habe. Damit seien „vielen Völkern der Welt Möglichkeiten zur Entwicklung“ eröffnet worden. Putin vermied es, in diesem Zusammenhang die Sowjetunion namentlich zu erwähnen. Auch behauptete er nicht, sie habe das überlegene Gesellschaftssystem gehabt.Doch glaubt der russische Staatschef, das „neokoloniale Modell“ sei „letztlich zum Scheitern verurteilt“. Die Welt trete „in eine Periode revolutionärer Transformationen“ ein, weil die „Mehrheit der Weltgemeinschaft“ an Souveränität interessiert sei. Es entwickle sich eine „antikoloniale Bewegung gegen die einseitige Hegemonie“ der USA. Das „Diktat der USA“ basiere auf dem „Faustrecht“.Mit der Rede wurde der Rückgriff auf eine sowjetische Wahrnehmung der Welt offenbar, wie sie vor Michail Gorbatschows Perestroika maßgebend war. Auch wenn er Lenin nicht erwähnte, sind Putins Thesen, erkennbar geprägt von dessen Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Dieses Traktat schrieb der spätere Gründer des Sowjetstaates von Januar bis Juni 1916 im Schweizer Exil unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges. Freilich bekundete das ehemalige KPdSU-Mitglied Putin bei seinem Auftritt im Kreml auch, dass ihm keineswegs nach Rückkehr zur kommunistischen Weltanschauung sei. Anders als Lenin, der in einer revolutionären Arbeiterbewegung die Systemalternative sah, setzt Putin auf die „große Befreiungsmission unseres Volkes“, gestützt auf die „tausend Jahre russischer Staatlichkeit“. Davon ausgehend ruft er auf das „Schlachtfeld für unser Volk, für das große historische Russland.“ Wo dessen Grenzen letztlich verlaufen sollen, blieb unklar.„Nachtigall des Generalstabs“So verband Putin scheinbar Unvereinbares, indem er auf subtile Weise Versatzstücke aus Lenins Werk mit den Lehren des rechtskonservativen Philosophen Iwan Iljin, den Lenin 1922 auf dem sogenannten „Philosophendampfer“ ins Exil zwang. Am Schluss seiner Rede nannte Putin Iljin einen „wahren Patrioten“, indem er dessen Bekenntnis zitierte, er glaube „an die geistigen Kräfte des russischen Volkes“. Zur Frage eines Kriegsendes in der Ukraine enthielt Putins Suada nur einen Satz: „Wir rufen das Kiewer Regime auf, unverzüglich das Feuer, jede Kampftätigkeit und den Krieg einzustellen, den es schon 2014 begonnen hat, und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.“Unter den geladenen Zuhörern saß jemand, der seit drei Jahrzehnten an einer Synthese aus sowjetischen und russisch-nationalen Elemente zu einer neuen imperialen Ideologie arbeitet: der 84-jährige Alexander Prochanow, Herausgeber der Wochenzeitung Sawtra und Autor zahlreicher Kolportageromane. Der frühere Afghanistan-Korrespondent der Moskauer Literaturzeitung hatte in den 1990er Jahren in Moskau den Ruf eine „Nachtigall des Generalstabes“ zu sein. Dass Prochanow an diesem 30. September in den Kreml gebeten war, schien auch ein Signal an die politische Elite zu sein, der solcherart Radikalismus bislang eher fremd war.