Stellen wir uns vor, in zehn Jahren ist wieder PISA. Dann werden es die Fünfjährigen von heute sein, die die Ehre unseres Bildungswesens, ja das Ansehen der gesamten ehemals dichtenden und denkenden Nation retten - oder uns erneut in Selbstzweifel und Schuldzuweisungen stürzen. Die Akteure der dann stattfindenden Bestandsaufnahme stehen schon bereit - mehr noch, wesentliche Weichen dafür, ob und wie sie dermaleinst Texte verstehen, Zusammenhänge erschließen und Wissen transferieren werden, sind bereits gestellt. Und sehr häufig zeigt der Wegweiser leider in Richtung Desaster. Bildung war nämlich bisher im Leben vieler dieser zukünftigen PISA-Probanden kein Thema, denn keiner ihrer familiären Bezugspersonen kam es in den Sinn, dass in den er
ersten Lebensjahren entscheidende Entwicklungs- und Bildungsprozesse anstehen, die der Unterstützung bedürfen, um sich zu entfalten, und die zu einem späteren Zeitpunkt teilweise gar nicht, teilweise nur sehr mühsam nachzuholen sind.Zum Beispiel die Sprache, deren Nichtbeherrschung ja eine der wesentlichen Ursachen des desaströsen Abschneidens der deutschen Schüler im internationalen Vergleich war. Die sprachlichen Grundlagen, und damit die Grundlagen des Denkens, müssen gelegt sein, bevor die Kinder in die Schule kommen. Das gesunde Kinder-Gehirn ist dazu bereit, mehr und begieriger als jemals später. Wenn mit den Kindern gesprochen wird, wenn sie Sprachvorbilder haben, von denen sie eine korrekte und differenzierte Sprache lernen können, wenn ihnen vorgelesen wird, ihre Fragen beantwortet werden und es in ihrer Umgebung viele Anregungen zum Sprechen gibt, dann arbeitet das Gehirn auf Hochtouren, schafft neurophysiologische Verknüpfungen und Strukturen, an denen sich dann im Laufe der Jahre große Mengen neuer Wörter, Begriffe, Zusammenhänge anlagern können. Zwei Sprachen akzentfrei parallel zu lernen, ist dem Gehirn in diesem, und nur in diesem!, frühen Lebensalter ein Vergnügen. Allerdings: Wenn ihm ein agrammatisches Mischmasch angeboten wird, übernimmt es auch das.Und wenn Kinder sprachlich gar nicht angeregt werden, weil niemand genügend Interesse an ihnen hat, um mit ihnen zu sprechen, weil den ganzen Tag der Fernseher läuft, weil es keine Kinderbücher im Haushalt gibt, weil das Kind inmitten der Familie wortlos sich selbst überlassen bleibt? Dann verkümmern die tatendurstigen Gehirnstrukturen, allmählich schließt sich das Zeitfenster, das für den Spracherwerb offengehalten wurde, die Sprachsoftware, mit der die Kinder schließlich in die Schule starten, ist zu langsam, zu armselig.Da sollen sie dann lesen und schreiben lernen, Texte verstehen, abstrahieren, analysieren, sich bilden. Aber auf welcher Grundlage? Und überhaupt: Warum? Um uns bilden zu können, müssen wir ja nicht nur Texte verstehen und weiterdenken können, wir brauchen auch Lust dazu, Neugierde, Spaß daran, einer Frage nachzugehen, ein Problem von verschiedenen Seiten zu beleuchten, Lösungsstrategien zu entwickeln. Nur aus diesem Stoff kann im Laufe der Entwicklung das gewonnen werden, was bei den heutigen Schüler so schmerzhaft vermisst wird: Frustrationstoleranz. Um sich zum Beispiel den Mühen des Fremdsprachenlernens zu unterziehen, bedarf es einer kräftig sprudelnden Motivationsquelle, des früh gespeicherten Wissens darum, dass solche Anstrengungen sich lohnen. Und man braucht ein ebenfalls elementar eingeprägtes Selbstbewusstsein, die Überzeugung, Herausforderungen erfolgreich bestehen zu können.Auch hier stammen die wesentlichen Grundlagen aus den ersten Lebensjahren - oder sie fehlen eben. Ein Beispiel: Da stehen zwei Vierjährige und versuchen, ein langes Gummiband durchzuschneiden. Das brauchen sie für eine abenteuerliche Konstruktion, die sie "Höhlenhütte" nennen. Die Aufgabe erweist sich als schwierig, immer wieder flutscht das Gummi weg. Es dauert lange, bis die beiden herausgefunden habe, mit welcher Spann- und Schneidetechnik dem Band beizukommen ist. Und dann zeigt sich, warum es sich gelohnt hat, dabei zuzusehen, ohne vermeintlich hilfreich einzugreifen: Die Kinder strahlen, hüpfen vor Begeisterung, recken die Fäuste in die Luft, nehmen selbstbewusst die nächste Aufgabe in Angriff. Experimentierlust, Forscherdrang, Thesenbildung, Versuch und Irrtum, Lernzuwachs, Motivation, Frustrationstoleranz - alles da. So und ähnlich können sie aussehen, die Selbstbildungsprozesse von Kindern.Ja - eigentlich ist es ganz einfach, und doch für viele Eltern inzwischen viel zu schwer. Irgendwo auf dem Weg in die schöne autistische Medien- und Konsumentenwelt sind offenbar viele elementare zwischenmenschliche Fähigkeiten und Kontaktformen auf der Strecke geblieben. Nähe, Interesse, Spielen, (Vor-)Lesen, Gespräche führen, Grenzen setzen, Impulse geben. Achtung und Liebe - wenn solche Worte altmodisch klingen, was bedeutet das für die Zukunft unserer Gesellschaft, für die Bildungsfähigkeit unseres Nachwuchses? Computer und Internetanschlüsse in den Grundschulen, Fremdsprachenunterricht ab der dritten Klasse, Zentralabitur - all diese Maßnahmen sind ja durchaus erwägenswert, aber den Kern des Bildungsproblems verfehlen sie um Längen. Die wirkliche Bildungskatastrophe versteckt sich in den Familien. Und wenn Bildungspolitik nicht dort ansetzt, werden die PISA-Ergebnisse auch in zehn Jahren nicht besser ausfallen.Ungebildete Eltern nämlich sind die denkbar schlechtesten Starthelfer. Damit ist vor allem der Mangel an formaler Bildung gemeint, der sich skandalöserweise in der Bundesrepublik in den schwächeren sozialen Schichten mit quasi alttestamentarischer Gesetzmäßigkeit von Generation zu Generation zu vererben scheint. Die aktuelle Sprachstandsmessung der diesjährigen Schulanfänger in einigen Berliner Innenstadtbezirken mit besonderen sozialen Brennpunkten hat ergeben, dass Kinder aus solcherart depravierten Familien noch nicht einmal in der Lage sind, ein einfaches Bild zu beschreiben. Es fehlen die Worte, die Grammatik, die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und zu benennen. Rund 90 Prozent dieser Erstklässler benötigen zusätzliche Förderung, um den ihrem Alter angemessenen Sprachstand zu erreichen. Für viele wird der Rückstand nicht mehr aufzuholen sein, die Bildungsprognosen für diese Kinder sind bereits jetzt, ganz am Anfang ihrer Schulkarriere, schlecht. Kleinere Lerngruppen wären hilfreich, Ganztagsbetreuung könnte die familiären Defizite jedenfalls ein wenig ausgleichen. Wo aber bleibt das Bildungsprogramm, in dem an ausgewählten Schulen die Erfolgsmodelle der Skandinavier erprobt werden? Eins steht jedenfalls fest: Wenn nicht sehr bald umfassend etwas unternommen wird, um wenigstens diese und die kommenden Generationen zukünftiger Eltern vor sozial verursachter Verdummung zu bewahren, dann werden wir uns auf eine dauerhafte Abspaltung großer Bevölkerungsteile von Bildung und Kultur und die daraus folgenden verheerenden gesellschaftlichen Konsequenzen einstellen müssen.Doch auch die so schlecht ausgestatteten heutigen Eltern sollten nicht sich selbst überlassen bleiben. Theoretisch wenigstens könnten sie ja mit ihren Kindern reden und spielen, aber viele von ihnen wissen nicht einmal, wie wichtig das wäre. Elternberatung, zum Beispiel in Form von Elternkursen, müsste alle Erziehenden erreichen, um ihnen elementare Informationen über die kindliche Entwicklung und deren Förderung zu vermitteln. Diese Gesellschaft kann es sich nicht mehr leisten, ihre Kinder von Analphabeten in Sachen Entwicklungspsychologie und Pädagogik erziehen zu lassen - ein Schulfach zu diesem Themengebiet gehörte in den allgemeinen Lehrplan. Und wo sind eigentlich die pädagogischen Ratgebersendungen im Fernsehen geblieben?Oft allerdings sind Eltern, vor allem die vielen alleinerziehenden Frauen, durch die Probleme des familiären Alltags so überfordert, dass ihre Nerven blank liegen und sie zunächst einmal praktische Entlastung brauchen, bevor sie sich ihren Kindern zuwenden können. Eltern nichtdeutscher Herkunft benötigen zunächst muttersprachliche Informationen zum Thema Erziehung und Spracherwerb, müssen dann aber auch Sprachkurse besuchen, um sich mit den Fachkräften über Fragen der Erziehung und Bildung auseinandersetzen zu können. Und diese Fachkräfte schließlich, vor allem ErzieherInnen und LehrerInnen, benötigen nicht nur Aus-und Fortbildungsangebote, sondern insbesondere und zuerst Arbeitsbedingungen, die sie besser als bisher in die Lage versetzen, die Intelligenz und die Bildungsfähigkeit der Kinder zu fördern.Ein Blick auf die aktuelle Politik freilich lässt daran zweifeln, dass die fundamentale Bedeutung der frühen Kindheit für die Bildungszukunft der Gesellschaft erkannt wird.
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