Wo gehobelt wird ...

FLÜCHTLINGDRAMA Schon 100.000 Tschetschenen sind eine Katastrophe für Inguschetien doch es könnten bald 250.000 sein

Für ausländische Journalisten wird es von Tag zu Tag schwieriger, aus den Kampfzonen in Tschetschenien direkt zu berichten, insbesondere das Elend der Flüchtlinge darzustellen. Wir greifen deshalb - um dieses Thema nicht ausklammern zu müssen - auf die eindrucksvolle Reportage des Sonderkorrespondenten der Moskauer Obschtschaja Gaseta, Bachtijar Achmedchanow, zurück. Seine Beobachtungen und Gespräche, aufgezeichnet während einer Reise durch Inguschetien, wurden am 7. Oktober veröffentlicht. Allein die Zahl der tschetschenischen Flüchtlinge in Inguschetien stieg inzwischen auf mehr als 100.000 und dürfte bald auf 150.000 bis 250.000 wachsen. Für das kleine Inguschetien mit seinen 340.000 Einwohnern kommt das einer Katastrophe gleich: Schon werden aus Nasran und Malgobek erste Prügeleien zwischen einheimischen Jugendlichen und Flüchtlingen gemeldet.

"Dummköpfe kämpfen, intelligente Menschen einigen sich." Mit diesen Worten beschreibt Inguschetiens Präsident Ruslan Auschew, die derzeitige Lage im Nordkaukasus. "Um einige Terroristen zu vernichten, ist es keineswegs erforderlich, Städte und Siedlungen zu bombardieren, aus denen sich die Terroristen wahrscheinlich bereits zurückgezogen haben. Derartige Maßnahmen können nur zu einem neuen Krieg führen. Wir wiederholen das Jahr 1995. Was wäre denn so falsch daran gewesen, hätten wir in der vergangenen Woche mit Maschadow gesprochen? Ich weiß, dass er erst kürzlich wieder erfolglos versucht hat, Jelzin ans Telefon zu kriegen. Natürlich werden wir weiterhin Flüchtlinge aufnehmen, weil ich nicht glaube, dass man uns einfach unserem Schicksal überlassen wird."

Bald ein Tschetscheno-Inguschetien?
Die staubigen Straßen Nasrans verstopfen Fahrzeuge mit tschetschenischen Nummernschildern. Unter Markisen und im Schatten der Bäume sitzen mit niedergeschlagenem Blick Frauen, Kinder und Alte. In Inguschetien endet ihre Flucht. Weiter geht es nicht. Woanders lässt man sie auch nicht hin. Und im übrigen fühlen sie sich hier auch nicht besonders wohl. Achmed, mein Fahrer, deutet missmutig auf einige Männer, die sich direkt am Straßenrand niedergelassen haben: "Alles Tschetschenen, als sie ankamen, waren sie noch satt. Aber lass sie erst mal hungrig sein, dann ist hier der Teufel los."

Eine mehr als realistische Prognose. Vier Fünftel aller Inguschen sind ohnehin stellungslos - jetzt wird sich die Zahl der Arbeitsuchenden erheblich vergrößern. Viele Tschetschenen meinen, sie seien in Inguschetien zu Hause. Gibt es also bald ein Tschetscheno-Inguschetien?

Mein Gesprächspartner am Schaschlyk-Stand schüttelt den Kopf. "Nein, Inguschetien für sich, das ist schon die bessere Lösung. Ich selbst bin aus Grosny. Konnte dort keine Arbeit finden. Da bin ich nach Nasran gegangen. Habe hier bei Null angefangen. Wer jetzt kommt, den nehme ich auf. Bei uns wohnen schon 20 Leute. Seit fünf Tagen schlafe ich ohne Kopfkissen. Aber das geht schon in Ordnung. Auch andere beherbergen vollkommen fremde Menschen. Was willst du machen, wenn an deiner Pforte plötzlich Kinder und Alte sitzen. Aber lange kann es nicht mehr so weitergehen."

Der letzte Posten auf inguschischer Seite. Die Straße ist mit mehreren Reihen Stacheldraht versperrt, der bis in die angrenzenden Felder reicht. Hinter dem Stacheldraht, auf tschetschenischer Seite, drängen sich dicht an dicht Fahrzeuge und Menschenkolonnen.

Haben Sie wenigstens gegessen?
"Ich flehe Euch an, lasst uns durch. Ich habe drei Kinder. Nicht einmal Brot konnten wir mitnehmen. Wir haben Angst, versteht ihr das nicht?" - Umgeben von Bewaffneten nimmt sich die Frau in ihrem adretten Kleid und Stöckelschuhen eher seltsam aus. Galina Nikolajewna ist eine Lehrerin aus Grosny. Sie hat den letzten Krieg überlebt. Den jetzigen Krieg zu überstehen, ist sie nicht mehr in der Lage. Vor zwei Tagen schlug eine Bombe in ihr Haus im Neubaugebiet Sunsha ein - und sie flüchtete zusammen mit ihren Kindern buchstäblich zu Fuß aus Grosny. "Wir zogen an, was uns in die Hände kam. Weder warme Sachen noch Ausweispapiere nahmen wir mit. Die Tochter griff nur noch schnell nach der Katze, aber wo sollen wir jetzt mit ihr hin. Nachts schliefen wir auf blanker Erde. Oh Gott, sagen wenigstens Sie dem Posten, er soll uns durchlassen. Sieht er denn nicht, dass wir Russen sind wie er ?"

"Liebe Frau, wie oft soll ich es Ihnen noch sagen: Ohne Dokumente kommen Sie hier nicht durch. Mir ist scheißegal, ob Sie Russin sind oder sonst wer!" Der inguschische Soldat, breit wie ein Schrank, rot vor Hitze und Ärger, wendet sich demonstrativ von der weinenden Frau ab. "Hören Sie auf, habe ich gesagt. Machen Sie, dass Sie durch die Absperrung kommen. Beeilen Sie sich. Ihretwegen werde ich noch gefeuert. Halt! Haben Sie wenigstens gegessen? Gehen Sie zum Posten. Dort wird man Ihnen etwas geben. Und dann hauen Sie bloß ab!"

War der Krieg wieder einmal bestellt?
Im Flüchtlingscamp werden Journalisten sofort von Menschen umringt. Sie wollen reden. Sie wollen, dass ihnen irgend jemand zuhört. Sarema aus Grosny: "Mein Mann ist russischer Offizier. Seine Rente bekommt er in Dagestan. Zuerst wollten wir dorthin, aber die Dagestaner haben uns nicht passieren lassen. Wir glaubten Maschadow, als er sagte, dass nach 400 Jahren Krieg mit Russ land nun Frieden herrschen wird. Jetzt plötzlich heißt es, dass wir uns in den letzten vier Jahren auf den Krieg vorbereiten konnten. Das heißt: er wusste alles! Warum hat er uns damals, 1997, nicht gewarnt, dass es Krieg geben wird, dass wir nichts Gutes zu erwarten haben. Nun wird Grosny Hunger leiden; es gibt weder Gas noch Wasser. Die Föderalen (die russische Armee - die Red.) haben nicht nur das Fernsehgelände zerbombt, sondern auch alle Brücken, Wasserwerke und die Gasverteilerstation!"

Im Lager gibt es keine Wasserleitung und nichts zu essen und nur ein Rot-Kreuz-Zelt und nur eine Ärztin. 2.000 Menschen leben von dem, was sie mitgebracht haben. Aminat heißt die Ärztin aus dem inguschischen Nasran, eine junge Frau, die seit Tagen nicht geschlafen hat und ohne Medikamente auskommen muss. Der Boden in ihrem Sanitätszelt ist mit Stroh bedeckt, eine Behandlungscouch existiert nicht. Die Kranken müssen auf drei Baumstümpfen sitzen. Und Kranke gibt es viele: erkältete Kinder, herzkranke Alte, Frauen mit Darmgrippe, Frauen, die im Camp entbunden haben ...

"Politik ist, wenn sich ein großes Volk für ein kleines Volk verantwortlich fühlt. Warum fängt man wieder an, uns wie Gras niederzumähen. Ich kann nicht glauben, das Russland nicht mit einer Handvoll Banditen fertig wird. Das heißt: war der Krieg wieder einmal bestellt?" Malika stehen Tränen in ihren großen Augen. Nach den Bombardierungen des ersten Krieges hatte sie die Namen selbst naher Verwandter vergessen. Nun lebt sie in Angst, sämtliche Namen zu vergessen. "Wo gehobelt wird, fallen Späne. Und die Späne sind wieder einmal wir ..."

Übersetzung: Katharina Stephan

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