In 50 Jahren, so eine These des israelischen Historikers Yuval Noah Harari, werden sich die Menschen an die Covid-19-Pandemie erinnern als den „Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde“. Ob die Prognose aufgeht, wer weiß. Doch schon jetzt ist klar: Corona ist ein Transformationsbeschleuniger. Exemplarisch deutlich wird dies an dem Schub, den der Technologiekonzern Amazon durch die Pandemie bekommen hat. Während die Weltwirtschaft im vergangenen Jahr in die tiefste Rezession seit 1929 rutschte, schrieb der Onlinehändler aus Seattle 2020 das erfolgreichste Jahr seiner Geschichte. Amazon steigerte den Umsatz um 38 Prozent auf sagenhafte 386 Milliarden US-Dollar, was in etwa dem Bruttoninlandsprodukt von Israel oder Irland entspricht.
Wichtigster Markt für Amazon außerhalb von Nordamerika ist Deutschland, wo Amazon inzwischen 14 Versandlager („Fulfillment Center“) betreibt. Hier knackte das Unternehmen 2020 erstmals die 50-Prozent-Marke beim Anteil am Onlinehandel und steigerte seinen Umsatz um fast ein Drittel auf 25,9 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die Nummer zwei im deutschen E-Commerce – der Hamburger Versandhändler Otto – konnte im vergangenen Jahr im Inland nur 6,9 Milliarden Euro umsetzen.
Der Abstand zur Konkurrenz wird immer größer. Amazon habe es geschafft, sich so „nachhaltig und umfassend“ zu verankern, „dass der Weg zum Kunden für andere Anbieter regelrecht abgeschnitten wird“, bilanziert das auf den Einzelhandel spezialisierte Marktforschungsunternehmen IFH Köln. Wie hat Amazon das geschafft?
Traum vom „everything store“
1994 in Seattle, USA, als „online bookstore“ eröffnet, hat sich Amazon in einem Vierteljahrhundert zu dem von Gründer Jeff Bezos erträumten „everything store“ entwickelt. Mit wachsendem Erfolg weitete Amazon seine Produktpalette aus: Zunächst wurden CDs und DVDs ins Programm aufgenommen, dann Kinderspielzeug und Elektronik. Bald schon gingen die Ambitionen weit über den Versandhandel hinaus.
Wie frühzeitig Amazon neue Geschäftsfelder erschließt, zeigt die Entwicklung des Cloud-Dienstes AWS (Amazon Web Services), der Speicherplatz im Internet bereitstellt. 2002 gegründet, ist AWS inzwischen nicht nur der weltweit führende Cloud-Computing-Anbieter, zu dessen Kunden neben Unternehmen wie Netflix, Disney, Dropbox und General Electric auch die NASA, die CIA oder das Pentagon gehören. AWS ist auch Amazons Cash-Cow und für den größten Teil des Konzerngewinns verantwortlich. Ja, mehr noch: Die Gewinne aus dem Cloud-Business erlauben es dem Konzern erst, seine weltweite Expansion als Onlinehändler voranzutreiben. Denn tatsächlich ist der Versandhandel außerhalb Nordamerikas für Amazon immer noch ein Verlustgeschäft. Dieser Umstand, völlig untypisch für ein kapitalistisches Unternehmen, entspricht Amazons Strategie: Es geht nicht um Profit, sondern um strategischen Machtzuwachs.
2019 erzielte Amazon weltweit einen Gewinn von 14,5 Milliarden US-Dollar, davon 9,2 Milliarden durch AWS – mehr als durch das Handelsgeschäft in Nordamerika (7,0 Milliarden). Im Onlinehandel im Rest der Welt schloss der Konzern sogar mit Verlust von 1,7 Milliarden Dollar. Amazons Fähigkeit, über Jahre hinweg Defizite im Onlinehandel in Kauf zu nehmen und über andere Geschäftsbereiche zu kompensieren, ermöglicht es, Konkurrenten langsam zu zermürben und schließlich billig zu übernehmen. Und Arbeitskämpfe über lange Zeit „aussitzen“ zu können.
Amazon ist heute zugleich Logistikunternehmen, Treiber der Plattformökonomie, Technologieunternehmen, Anbieter von Musik- und Videostreaming-Diensten, Hersteller von IT-Hardware und -Software und mit der Washington Post gar Besitzer einer eigenen Tageszeitung. Binnen weniger Jahre entwickelte sich der Konzern zu einem der weltweit wichtigsten Produzenten von Filmen und Serien, ist Großinvestor beim Online-Essenslieferdienst Deliveroo und unterhält mit Ring ein auf Smarthome- und Sicherheitstechnik spezialisiertes Tochterunternehmen. Mit Kuiper Systems – das eine satellitengestützte Breitbandinternetversorgung schaffen soll – will man Elon Musks Starlink Konkurrenz machen.
Den Versandhandel organisiert Amazon zunehmend dezentral. Ziel ist es, „die letzte Meile“ zu kontrollieren und so immer schnellere Lieferungen zu garantieren. Der Konzern betreibt eine eigene Luftfracht-Fluglinie (Amazon Air) und ist in die weltweite Containerschifffahrt eingestiegen. Seit einigen Jahren betreibt der Konzern in einer wachsenden Zahl von Großstädten in den USA, Großbritannien, Italien, Frankreich, Spanien, Japan und Deutschland innerstädtische Expressauslieferungsstationen („Prime Now Hubs“). Um schneller liefern zu können, macht sich das Unternehmen immer unabhängiger von den großen Paketdienstleistern wie DHL oder Hermes und nimmt die Zustellung in die eigene Hand. In den vergangenen vier Jahren eröffnete Amazon zusätzlich zu seinen Versandlagern eigene Sortier- und Verteilzentren in mehreren deutschen Großstädten. Dort werden die Bestellungen für die letzte Meile vorbereitet und an den eigenen Zustelldienst Amazon Logistics übergeben. Der wiederum arbeitet mit Subunternehmen, meist kleineren regionalen Logistikdienstleistern, zusammen.
Vorläufiger Höhepunkt dieser technologiegestützten Prekarisierung ist das Geschäftsmodell „Amazon Flex“ – eine Art Uber für den Paketdienst: Mit der Aussicht auf einen Verdienst von 25 Euro pro Stunde wirbt das Unternehmen neben- oder freiberufliche Zusteller an. Voraussetzung: eigener Pkw, Führerschein, polizeiliches Führungszeugnis. Amazon stellt bloß eine „Amazon Flex“-App, das Risiko müssen die Subunternehmer selbst schultern. Getankt wird auf eigene Kosten, wer im Stau steht, dessen Stundenverdienst schrumpft rapide. Damit wird es eng für traditionelle Logistikunternehmen wie DHL und Hermes: Laut einem Bericht des Handelsblatt rechnet DHL damit, bis 2022 154 Millionen Pakete weniger für Amazon auszuliefern, was einem Rückgang um ein Drittel entspricht.
Ein weiteres Aktionsfeld des Konzerns gewinnt durch die Corona-Pandemie an Dynamik: Amazons Einstieg ins digitale Gesundheitsgeschäft. Seit 2018 betreibt das Unternehmen den personalisierten Medikamentenversand Pill Pack, 2019 wurde eine Partnerschaft mit dem britischen National Health Service etabliert, bei der Amazon Zugriff auf Patientendaten erhält, angeblich in anonymisierter Form. Der Versuch, gemeinsam mit JP Morgan und Warren Buffett eine private Krankenversicherung zu etablieren, ist offenbar gescheitert, doch Amazon investiert weiter in die Entwicklung von KI-gestützten Diagnosetools für Ärzte, virtuelle Gesundheitsversorgung und Medizinforschung.
Ist der Aufstieg Amazons zum systemrelevanten Versorgungsunternehmen und damit zur digitalen Supermacht überhaupt noch aufzuhalten? Tatsächlich ist der Riese an verschiedenen Fronten in Bedrängnis: In den USA und der EU laufen kartellrechtliche Verfahren, die für Amazons Monopolmacht riskant werden könnten. Noch unberechenbarer sind die anwachsenden Bewegungen für gewerkschaftliche Organisierung in den USA. War das Unternehmen seit der Gründung praktisch gewerkschaftsfrei, so kommt es in den vergangenen zwei bis drei Jahren immer öfter zu Protestaktionen und sogar kleineren Streiks. Der bisherige Höhepunkt ist die seit Anfang Februar laufende Gewerkschaftswahl in einem Logistikzentrum in Bessemer bei Birmingham, Alabama. Mitte März wird feststehen, ob Bessemer der erste gewerkschaftlich organisierte Amazon-Standort in den USA wird.
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