"Du kannst machen, was du willst, du wirst nie dazugehören.“ Dieser Satz eines türkischen Jugendlichen ist, wenn man so will, Straßen-Sprech für das sperrige Soziologenwort: „Postmigration“. Gemeint ist Folgendes: Die zweite und dritte Einwanderergeneration fühlt sich Deutschland nicht zugehörig, sie bewegen sich in ihren abgeschlossenen Kulturkreisen. Sie können weder ihre Heimatsprache noch Deutsch richtig sprechen, wohnen in sozialen Brennpunkten und kommen aus ultrakonservativen Verhältnissen. Schwänzen, von der Schule fliegen, keine Perspektiven. Man kennt das aus den Medien.
Aber stimmt das überhaupt? Von dieser Frage ausgehend, stellte das Ballhaus Naunynstrasse eine Art Tagesschau für Migranten auf die Beine, d
e Beine, die von der Kreuzberger Künstlerin Jette Ahrens geleitet wird. Die Idee: Jugendliche aus sogenannten sozialen Brennpunkten, über die sonst immer nur im Zusammenhang mit Jugendgewalt in den Medien berichtet wird, bekommen eine Kamera und dürfen, begleitet von einem Filmprofi, aus ihrem Kiez berichten.Was dabei herauskommt, konnte man im vollbesetzen Ballhaus Naunynstrasse im Berliner Stadtteil Kreuzberg schon zum zweiten Mal sehen. Unter der behutsamen Anleitung der Journalisten Kemal Hür und der Videoclip-Regisseurin Liviana Davi haben Schülerinnen und Schüler der „Gesellschaft für berufliche Maßnahmen“ (GfBM) – einer Art Auffangbecken für Schüler, die von allen Regelschulen geflogen sind – einen erstaunlichen Film gemacht.Ein neuer EinbürgerungstestIn dem Film geht es um die Frage: Was muss man drauf haben, um in einem Stadtteil zu leben, in dem fast 40 Prozent der Bevölkerung Migranten sind? Die Jugendlichen erfanden einen „Einbügerungstest für Kreuzberg“ und machten sich mit Kamera und Mikrofon auf den Weg durch ihren Kiez.Passanten wurden gefragt: „Wie bestellt man einen Döner auf Türkisch?“, oder „An welche Bezirke grenzt Kreuzberg?“ Zugegeben, nicht alle Fragen waren geistreich, nicht alle Fragen waren wichtig. Aber viele zeugten von einer eigenständigen Umdeutung der fremden neuen Heimat Kreuzberg im Sinne der Belange von Jugendlichen."Wo liegt der Gülüzer Bahnhof?""Der was?! Du meinst den Görlitzer Bahnhof.""Nein, Gülüzer Bahnhof."Lautes Kichern im Saal. Den schelmisch grinsenden Jugendlichen verzieh man so einiges. Weil ja auch so viel richtig Gutes dabei war. Zum Beispiel diese Titantic-artige Frage: „Müssen Migranten auch GEZ-Gebühren zahlen, obwohl sie sich in den Medien falsch dargestellt fühlen?“ Eine junge Frau mit Kopftuch meint: „Nein, natürlisch nüsch!“ Ein Deutscher antwortet zutreffend: „Die werden nicht falsch dargestellt, die werden gar nicht dargestellt.“Die kleine Monatsschau war visuell professionell, die Jugendlichen führten ihre Interviews clever und witzig. Noch unverdorben von Journalistenschulen machten sie richtig guten Meinungsjournalismus, wie man ihn leider viel zu selten im Fernsehen sieht. Sie berichteten nicht „objektiv“, sondern quatschten auch mal vor laufender Kamera dazwischen, wenn es ihnen gegen den Strich lief.Die türkische Nachwuchsjournalistin fragte: „Wie stellst du dir deine Zukunft vor?“Türkischer Schüler: „Ich will heiraten, eine Türkin.“Journalistin: „Kannst du dir nicht vorstellen, eine Deutsche zu heiraten?“Schüler: „Nein“Journalistin: „Warum?"Schüler: „Steht so im Koran“Journalistin wütend: „Steht gar nicht so im Koran!“Schüler: „Doch.“Die Idee, einen Einbürgerungstest für Kreuzberg zu machen, war natürlich ein Spaß der Jugendlichen. Und doch wurde man das Gefühl nicht los, dass viel mehr dahintersteckt. Kaum einer der Jugendlichen fühlt sich als „Deutscher“. Gleichzeitig ist allen klar, dass die Heimat ihrer Eltern oder Großeltern keine Option für sie ist.Am Ende bleibt: KreuzbergEin Jugendlicher sagte nach der Vorstellung: „Wenn du alles weglässt, was dir nicht wirklich so richtig wichtig ist, also Schule und Nachbarn und Türkei und so, wenn das alles weg ist ja, dann bleibt für mich vor allem noch Kreuzberg. Hier fühle ich mich sicher.“Man kann darüber streiten, ob alle ein Zuhause finden, ob Menschen eine Zugehörigkeit zu einer Nation, einem Volk oder einer Straße brauchen - alles egal. Die Jugendlichen hier haben für sich Kreuzberg als Heimat definiert. Ein „Problembezirk“, auf den sie stolz sind. Von dem sie liebevoll, fast zärtlich sprechen. Und für den sie einen Einbürgerungstest fordern.Die kleine Kiez-Monatsschau fand ein großes Schlussbild: Die Nachwuchsjournalisten standen auf der Bühne und beantworteten verlegen Fragen aus dem Publikum. Als die Projektleiterin Jette Ahrens noch den beiden Lehrern der GfBM-Schule dankte, brach Jubel im Saal aus. Während die Menge klatschte, überlegte man still, ob man sich an eine Lehrkraft aus dem Gymnasium erinnern kann, bei dessen Erwähnung man spontan gejubelt hätte.