Wo man's nicht erwartet hat

China Auf Wikipedia ist zwischen Autoren aus China, Taiwan und Hongkong eine politische Diskussion entbrannt. Es geht um das Tiananmen-Massaker und eine abtrünnige Insel
Ausgabe 49/2013
Wo man's nicht erwartet hat

Foto: LIONEL BONAVENTURE/ AFP/ Getty Images

Man sollte meinen, dass ideologische Grabenkämpfe im kommunistischen China überall ausgetragen werden – nur nicht im Internet. Der Staat überwacht das Netz, Facebook ist gesperrt, und im Twitter-Pendant Weibo lesen die Zensoren mit. Dass nun auf Wikipedia eine Diskussion über Politik entbrannt ist, ist nicht ohne Ironie. Verfasser aus China, Taiwan und Hongkong streiten dort über historische Fakten.

Konkret geht es um die Niederschlagung der Proteste am Tiananmen-Platz 1989. In dem Diskussionsthread streiten Nutzer über die Frage, ob es sich um ein „Massaker“ handelte, die Volksarmee die Aufstände „mit Gewalt“ niederkartätschte oder ob die Behörden in Peking die Wahrheit verschleiert haben. Obwohl das Thema in China als hochsensibel gilt – Tiananmen gehört neben Tibet und Taiwan zu den drei großen Tabus mit „T“ –, hat Wikipedia den Artikel vorerst nicht aus dem Netz genommen.

„Wikipedia unterwirft sich auf keinen Fall der Politik der Selbstzensur“, sagte Tango Chan von der Wikimedia Foun-dation, der New York Times. Die gemeinnützige Stiftung ist Träger der Online-Enzyklopädie und beschäftigt in China 80 Administratoren. Trotz gelegentlicher Blockaden zählt die chinesische Version von Wikipedia mittlerweile 500.000 Artikel. Die Inhalte speisen sich aus (unbezahlten) Beiträgen von Autoren. Den Verfassern geht es nicht um Geld, sondern um Deutungshoheit. Laut dem Wikimedia Traffic Analysis Report wurden 39,1 Prozent der Bearbeitungen („edits“) von Taiwan aus vorgenommen, 25 Prozent aus Hongkong.

Im April gab es eine hitzige Diskussion über die Kampagne Chiang Kai-sheks, des Generals, der in den dreißiger Jahren gegen Maos Kommunisten kämpfte und nach seiner Niederlage 1949 nach Taiwan floh. Der Inselstaat, der sich offiziell „Republik China“ nennt und das historische Erbe beansprucht, wird von Peking als abtrünnige Provinz betrachtet. Der Artikel auf der chinesischen Wikipedia-Seite ist mit dem Titel „Der Anti-Belagerungskrieg der chinesischen Gemeinschaft“ überschrieben. Taiwanische Nutzer sehen darin eine ideologische Verzerrung. „Aus der Sicht Taiwans kamen die militanten Aktionen gegen Nationalchina (das damals auf Festland war) einer Revolte gleich“, schreibt ein Nutzer namens Demonbane. Wikipedia solle nicht der Version Festlandchinas folgen. Fürs Erste bleibt der Titel bestehen.

Auch beim Thema Hongkong geht es auf Wikipedia heiß her. Die ehemalige britische Kolonie gelangte 1997 wieder unter chinesische Hoheit und firmiert offiziell als Sonderverwaltungszone mit eigener Staatsangehörigkeit. In dem chinesischen Eintrag in Wikipedia zürnen Nutzer, dass Hongkong gar kein souveräner Staat sei und folglich keine eigene Nationalität existiere. Der offenbar aus Hongkong stammende Nutzer Oneam konterte die Feststellung mit dem Hinweis, dass die Verfasser von Wikipedia nicht über die Nationalität von jemandem bestimmen.

Die Betreiber von Wikipedia versuchen, den Streit zu entschärfen, indem sie mittlerweile fünf Sprachversionen zur Verfügung stellen. Außerdem betonen sie die eigene Neutralität in historischen Fragen. Allein, es hilft nichts, hat aber auch sein Gutes: So ist Raum für eine Debatte, die in China öffentlich nicht geführt wird.

Adrian Lobe ist freier Journalist und war jüngst in Hongkong auf Recherchereise

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