Es scheint an der Zeit, die Theorie von den antagonistischen und den nichtantagonistischen Widersprüchen wieder ins Auge zu fassen, zu der Mao Zedong in den fünfziger Jahren vorstieß, also die Unterscheidung jener Konflikte, die innerhalb eines gesellschaftlichen Systems lösbar sind (das sind die nichtantagonistischen), von solchen, deren Behebung nur mit Sprengung desselben gelingt, mit dem Sprung (aber nicht Mao hat es so formuliert) aus der verkannten Notwendigkeit in die neuartige Unfreiheit. Die Unterscheidung des großen Vorsitzenden wurde nicht dadurch obsolet, dass dieser hinter dem Rücken seiner eigenen Theorie durch Sprengung des von ihm dirigierten Systems dessen Widersprüche katastrophal vermehrte; so konnte in den neunziger Jahren der deutsch-
ch-amerikanische Soziologe Albert O. Hirschman wieder an jene Unterscheidung anknüpfen, mit der Aussicht, dass in der gegebenen kapitalistischen Ordnung alle Konflikte dadurch lösbar würden, dass man sie ausreichend berede. Geredet wird viel; was ausreichend wäre, ist eine Frage, die das Tun entscheidet. Die Tatsache, dass durch gewerkschaftlichen Ratschluss bei sinkenden öffentlichen Etats die Bezüge der Staatsdiener immerfort steigen müssen, könnte sich auf dem Wege des Staatsbankrotts durchaus als ein antagonistischer Widerspruch erweisen. Dass der Staatskapitalismus diese Dimension auf anderem Wege erreicht, wenn staatliche Banken privaten Investoren das Spekulationsrisiko abnehmen und parteipolitisch verankerte Dilettanten sich zu Lasten des Steuerzahlers an riesigen Krediten mästen, ist eine Erfahrung, die im Berliner Rahmen bereits gemacht wurde. Hier hilft am Ende nur noch die gouvernementale Entmündigung des Gemeinwesens. Oder, streng neoliberal, dessen Verkauf? Schon gibt es den Witz von dem präsumptiven Käufer, der bereit ist, Berlin zu dem Preis von einer Mark zu übernehmen, aber nach der Währungsumstellung zurückzuckt: ein Euro sei zu teuer - allenfalls ein Cent! Damit die realen Widersprüche nicht zu sehr ins Blickfeld geraten, werden wir zuweilen von nominalen in Anspruch genommen; SPD-Politiker haben dabei manchmal eine besonders treffsichere Hand. Etwa der Potsdamer Sozialminister Ziel; dieser nach Höherem strebende Brandenburger kam allen Ernstes auf den Gedanken, den angestrebten Zusammenschluss der Bundesländer Brandenburg und Berlin mit einem verschollenen Staatsnamen zu belegen. Er halte es, ließ er verlauten, für denkbar, das vereinigte Land Preußen zu nennen. Ach, dass die Kapitäne unseres öffentlichen Lebens so wenig Nachschlagwerke im Regal stehen haben! Das fiel schon bei dem VW-Chef Piëch auf, der dem neuen, in einem gläsernen Dresdner Haus von weißgekleideten Monteuren auf Parkettboden zusammengeschraubten Superwagen seines Konzerns den Namen Phaëthon gab und dabei nur an den gleichnamigen Zweispänner des 19. Jahrhunderts dachte, nicht aber an den Sohn des Helios, Phaethon eben, der das Sonnengespann seines Vaters so wenig zu zügeln wusste, dass der Himmel zu brennen anfing und der Vater den Sohn mit einem Blitzstrahl aus dem Wagen schleudern musste. Nennt man so ein neues Automobil? Auch Alwin Ziel hätte nur unter P ins Lexikon zu sehen brauchen; er hätte dort herausfinden können, dass Preußen ganz woanders als Brandenburg liegt, weit im Nordosten, zwischen Weichsel und Memel. Die Tatsache, dass der Name dieser entlegenen Provinz (nur auf ihrem außerhalb des deutschen Reiches befindlichen Territorium hatten sich die Hohenzollern 1701 den Titel eines Königs erworben) im Jahre 1806, nach dem Ende des alten deutschen Reiches, zum Namen der ganzen, von der Maas bis an die Memel reichenden Hohenzollern-Monarchie avancierte, änderte nichts daran, dass Brandenburg niemals in Preußen lag - oder nur insofern, als auch und vor allem Preußen zu Preußen gehörte. Die preußische Monarchie, dieses mächtigste Mitglied des als Deutsches Reich firmierenden Bundesstaates von 1870, verwandelte sich 1918 in einen Teilstaat der deutschen Republik, und er ging zugrunde nicht erst, als die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ihn in seine Bestandteile zerlegten und danach auch formell auflösten. Sein Ende dämmerte bereits im Juli 1932 herauf, als sich die sozialdemokratische preußische Regierung von einer auf Sonderermächtigungen beruhenden Reichsregierung aus dem Amt jagen ließ, ohne eine andere Gegenwehr zu unternehmen als eine juristische Beschwerde, über die niemals entschieden wurde. Die Verfassungsbestimmungen, deren Vollmachten Reichskanzler und Reichspräsident damals missbrauchten, hatten 1919 sozialdemokratische Politiker geschaffen, um gegen Linksextremisten ein Machtinstrument in der Hand zu haben. Es war vollends um Preußen geschehen, als im folgenden Jahr der vormalige preußische Generalfeldmarschall v. Hindenburg sich von einem österreichischen Demagogen dazu erpressen ließ, ihn ohne parlamentarische Mehrheit zum Reichskanzler zu ernennen. Der Untergang Preußens in der Katastrophe des Hitlerkrieges war die Folge dieser beiden Kapitulationen, der von links und der von rechts. Heute auf den Gedanken zu kommen, das alte Brandenburg nach der Vereinigung mit seiner Hauptstadt-Enklave mit dem Namen der einstigen Ostprovinz zu garnieren, zeugt von einer historischen Ahnungslosigkeit, wie man sie Stammtischen, nicht Kabinetten zutrauen möchte. Lassen wir Preußen den Preußen, die inzwischen Russen und Polen sind; wenn aber jene anhaltend von den Folgen des Krieges gezeichnete Gegend, die "Gebiet Kaliningrad" heißt, sich wieder Preußen nennen wollte, um dem anstehenden Wiederaufbau die Grundlage einer historischen Identität zu geben, dann wollen wir dem brandenburgischen Sozialminister wohl erlauben, dort seine Aufwartung zu machen. Er darf sogar Dreispitz und Schleppsäbel mitbringen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.