Wo sich Meer und Himmel treffen

Gastkommentar Kubas Horizonte in Bewegung

Lange bevor Einstein sie in einer mathematischen Formel einfing, war die Bedeutung der "Relativität" einer Mehrheit der reflektierenden Wesen schon irgendwie klar. Mir wurde die Relativität erstmals bewusst, als mir meine Mutter an einem der so schönen kubanischen Strände zu erklären suchte, dass dort, wo sich das Meer mit dem Himmel trifft, der Horizont sei - aber eben nur unser Horizont. Der Horizont für die Leute auf der Küstenstraße hinter uns oder die Schiffspassagiere auf dem Meer könnte gleich aussehen, wäre aber nicht derselbe - er wäre näher oder weiter weg als unserer und somit ein anderer.

Diese Relativität, die uns als Inselbewohner so gewohnt ist, da wir fast täglich die Sicht auf einen Horizont erleben, ist mir in diesen Tagen bei der Lektüre der vielfältigen Kommentare über die Lage in Kuba wieder zu Bewusstsein gekommen. Ich dachte über unsere Horizonte nach, während ich die widersprüchlichsten Ansichten las. Angefangen von den Äußerungen George Bushs über die Wahl Raúl Castros zum neuen Präsidenten bis hin zu den ewigen Enthusiasten, die verliebt in das revolutionäre kubanische Projekt sind, aber nicht wissen, wie das ist, die Härte des Alltags am eigenen Leib zu spüren.

Wer den großen Umbruch erwartet hat, ist bei seiner typischen Wette des Alles oder Nichts enttäuscht worden. Wir aber, die wir uns auf der Insel nach einem Wandel sehnen, erwarten nun mit Spannung, welche Änderungen es sein werden, die Raúl Castro schon vor Monaten angekündigt hat. Offenbar gelten sie besonders bestimmten Wirtschaftssektoren wie der desaströsen Landwirtschaft oder der Währungspolitik. Auch werden Bewegungen erkennbar, um Entscheidungsstrukturen zu demokratisieren. Sicher aber ist, dass es keine Revision der politischen Linie geben wird, die seit mehr als vier Jahrzehnten vorherrscht.

Auf die aller ärgste Weise haben sich einige Analytiker über Kubas künftige Horizonte verschätzt, die Vergleiche mit anderen Modellen herstellen. Einige sprechen von der Transition "à la Spanien", andere erwarten eine Kopie des chinesischen Paradigmas. Es wird gar vermutet, Kuba stehe an der Schwelle einer alles zermalmenden Verwandlung "à la Sowjetunion". Doch spiegelt sich nichts davon auch nur ansatzweise in den Absichten der neuen/alten kubanischen Führung.

Wahr ist, dass in Kuba wirklich etwas in Bewegung geraten ist. Man findet das erste und - wie ich glaube - wichtigste Indiz dafür auf den Straßen, unter den Menschen. Soweit mein Gedächtnis zurückreicht, haben Kubaner nie zuvor soviel über ihre Wirklichkeit geredet, diskutiert oder infrage gestellt. "The people are talking about", wie es in einem Lied heißt. Es redet über Reisefreiheit, weniger Bürokratie, die Nähe zwischen Löhnen und Lebenskosten, Raum zum Kommunizieren.

Es sind vorrangig zwei Ereignisse, die ich nach der Wahl der neuen Regierung am 24. Februar als Signal für beachtliche Veränderung empfinde: Der erste hochrangige Besucher aus dem Ausland, den der neue Präsident empfing, war kein Geringerer als Kardinal Tarcisio Bertone, Staatssekretär des Vatikan. Fast zeitgleich löste Kubas Außenminister am UN-Sitz in New York ein Versprechen ein, indem er die internationalen Protokolle über die "Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen Rechte" und über die "Zivilen und Politischen Rechte" unterschrieb. Was auch immer Extremisten auf der einen oder anderen Seite der Tastatur dazu sagen, es ändert nichts an der transzendentalen Bedeutung dieses Vorgangs. Gewiss, die Sicht auf Kubas Horizonte ist keineswegs klar. Alles ist so relativ, wie man es sich kaum vorstellen kann. Das Entscheidende ist aber - unsere Horizonte geraten in Bewegung.

Leonardo Padura Fuentes

Kubanischer Schriftsteller. Sein Buch Der Nebel von Gestern erhielt 2005 den Hammett-Preis für den besten spanischsprachigen Kriminalroman des Jahres.

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