Als ich um zehn Uhr zum Bahnhof komme, warten bereits sechs Herren auf mich. Ich bin zum Ausflug der »Sektion für Kulturpolitik« des kunstwissenschaftlichen Instituts geladen, nach alter Moskauer Sitte soll auf die Datscha gefahren und gegrillt werden - Anlass ist der Sommer und der 50. Geburtstag eines Sektionsmitglieds. Kaum sitzen wir in der »Elektritschka«, werden die ersten Bierflaschen geöffnet und aus gegebenem Anlass auch der erste Schluck Hochprozentiges verteilt. Nach einer Stunde Fahrt steigen wir angeheitert aus, auf einer Betonplattform mitten im Nirgendwo, drum herum ein paar Kioske. Aber wir müssen noch weiter. Es werden Taxis organisiert, die mit 180 Stundenkilometern über die Landstraße rasen.
Wir landen vor einem Plattenbau, der
enbau, der berühmten Datscha, wo uns die »Grande Dame« der Sektion bereits erwartet. Tomaten, Gurken und Käse sind angerichtet, wir laden unsere diversen Flaschen auf den Tisch, allerlei Fisch und marinierte Pilze und Schinken werden ausgepackt, die erste Flasche Wodka vom Aluminiumverschluss befreit. Der Sektionsleiter hält eine kleine Ansprache auf den Jubilar, voller freundlichster Ironie und Anspielungen auf dessen jüdische Herkunft. Ich bemühe mich, ein neutrales Gesicht zu machen, was nicht unbemerkt bleibt. Die Deutschen seien halt empfindlich in dieser Hinsicht, werde ich ausgelacht. Flugs ist die erste Flasche Wodka leer. Um das Besäufnis etwas zu verlangsamen, öffnet man eine Flasche georgischen Weins. Nach der so erfolgten Erfrischung wird der Ablauf des Hauptereignisses diskutiert: das Braten des Schaschliks auf offenem Feuer. Es bildet sich eine kleine Expeditionsgruppe, die einen hierfür geeigneten Platz in der Umgebung auskundschaftet, während die übrigen gebeten werden, nicht zu heftig weiterzutrinken. Schließlich ist der Platz gefunden und die eigene Pionierzeit noch bestens im Gedächtnis bringt einer der Herren ohne jede Schwierigkeit das gesammelte Holz zum Brennen, während der Rest in den nahen See steigt.Ernüchtert und gleichzeitig noch trunkener von Amüsement und Sonne geht es zurück zum Feuer, wo über die Fleisch-Zubereitung gestritten wird. Als aber die ersten Stücke vom Spieß genommen werden, die Flaschen und die übrigen Beilagen herangeschafft sind, kehrt wieder Frieden ein. Alles nimmt im Unterholz unter den schattigen Bäumen Platz. Man kaut das Fleisch, die Gurken und Tomaten, beißt in die bereitgelegten Büschel von Petersilie, Dill und Kerbel, lobt sich selbst und den schönen Tag, zieht über Freunde und Bekannte her, erzählt Geschichten aus der Jugend und immer wieder unterbricht jemand den Redestrom und sagt: »Irgendwie wird hier wenig getrunken.« Worauf die Antwort tönt: »Es wird wenig eingeschenkt!« Und schon ist die nächste Flasche leer. Nachdem alles Fleisch das Feuer passiert hat und bedrohlich wenig volle Flaschen übrigbleiben (in der Hitze des Grillens und Redens trinkt sich der georgische Wein wie Kirschsaft und der Wodka wie frisches Quellwasser), wird eine weitere Baderunde eingeläutet und verabredet, sich danach bei gekühltem Bier etwas zu erholen. So geht der Nachmittag dahin und schließlich erfolgt unter heftigen Protesten der Gastgeberin der Aufbruch. Auf dem Weg zur Straße begegnen wir einigen Nachbarn, die empört fragen, warum wir schon gehen. Es sei wohl, weil es nichts mehr zu trinken gäbe? Wir werden beschimpft, schlechte Gäste zu sein und der Sektionsleiter schützt morgen früh anberaumte Sitzungen vor, während der Jubilar gestützt werden muss.Für die Stunde Fußweg zur Bahnstation schließe ich mich den zwei Akademiemitgliedern der Sektion an, die trotz fortgeschrittenen Alters in abgewetzten Joggingschuhen rüstig dahinschreiten und mir Mut für den langen Weg machen. Als wir endlich an der Bahnstation ankommen, ist der Zug nach Moskau gerade abgefahren. Aber für Ärger bleibt keine Zeit, denn wir laufen den anderen Herren in die Arme, die das Taxi genommen haben. Glücklich wiedervereint und mit neuen Bierflaschen versorgt (ein echter Erfolg der Wirtschaftreformen: Irgendwo hat immer ein Kiosk offen) besteigen wir den nächsten Zug. In Moskau angekommen, wollen wir auf dem Bahnhof ein abschließendes, kühles Bier trinken. Trotz meiner gewürdigten Anstrengungen, »mitzuhalten«, bin ich die Nüchternste der Runde, was ausgerechnet der Betrunkenste der Herren am hellsichtigsten erkennt und sich in einem fort bei mir entschuldigt. Die Flaschen in der Hand trinken wir in einer Ecke des Bahnhofsplatzes unter Alkoholikern und Wohnsitzlosen warmes Bier im ohrenbetäubenden Lärm von Straßenarbeiten. Ein untrügliches Zeichen der neuen Zeit - früher, das meinen auch die Herren, hätte es so etwas nicht gegeben, dass man nachts von Baulärm belästigt wurde ...