Wofür Mohammed starb

Sudan Vor einem Jahr begann die Revolution, nun gibt es Frieden. Doch der Erfolg der Regierung steht auf der Kippe
Ausgabe 51/2019

Als er spätabends nach Hause kam, sie weckte, ihr ein Glas mit Hibiskusblütentee ans Bett stellte und sich ihre müden Blicke einen Moment lang trafen, wusste Umhani Ibrahim: Ihr Sohn Mohammed würde sterben. So erzählt es die Mutter sechs Monate danach im Vorraum ihres Hauses in Omdurman, der Zwillingsstadt von Khartum am westlichen Ufer des Nils. Draußen sind noch immer über 30 Grad. Mohammeds Schwester hat eine Schale mit Obst und getrockneten Datteln auf den Tisch gestellt, schenkt Tee mit Milch in Tassen aus Porzellan. Durch die halb offene Tür weht roter Sand über den schachbrettgemusterten Fußboden. Freunde haben einen Spruch an die Wand gemalt, den Mohammed kurz vor seinem Tod auf Facebook schrieb: „Wenn ich sterbe, denkt an mich. Denkt an unser Lachen und an all die schönen Erinnerungen, wenn ihr hinauf zu mir in den Himmel schaut. Niemand weiß, wann seine Zeit gekommen ist.“

Die Mutter sagt: „Ich wünsche mir einfach, dass sein Tod einen Sinn gehabt hat.“

Vor einem Jahr, am 19. Dezember 2018, begann im Sudan ein Aufstand gegen das islamistisch-fundamentalistische Regime von Omar al-Baschir, der seit 30 Jahren das Land beherrschte und vom Internationalen Strafgerichtshof für Menschenrechte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht wird. Zuerst protestierten die Menschen im Norden, dann gingen in der Hauptstadt Khartum Hunderttausende auf die Straßen. Mobilisiert wurden sie von der freien Gewerkschaftsvereinigung SPA, die sich bald mit den anderen oppositionellen Kräften zu den Forces of Freedom and Change (FFC) zusammenschloss.

Blut tropft aus der Flagge

Baschir versprach Reformen, rief den nationalen Notstand aus. Doch die Demonstranten zogen vor das Militärhauptquartier in Khartum. Hunderte blieben über Nacht, veranstalteten ein Sit-in, das zu einer Art Protestcamp wurde, und ließen sich auch nicht vertreiben, nachdem das Militär Baschir weggeputscht hatte. Ihre Forderungen sangen sie in Liedern: Friede, Freiheit, Gerechtigkeit! Und immer wieder: „Medaniyye!“, das heißt übersetzt: „Zivilistenregierung“. 58 Tage hielten sie durch, bevor Sicherheitskräfte die Proteste brutal auflösten. Dieses Ende erlebte Mohammed Ibrahim nicht mehr.

Schon Mohammeds Vater, dessen Name er trug, war politisch aktiv gewesen: Er hatte in den 1990er Jahren Baschirs fundamentalistische National Congress Party unterstützt. Später wandte er sich jedoch gegen sie, wurde festgenommen und zehn Jahre lang inhaftiert – unter dem Vorwurf, gemeinsam mit Freunden einen Putsch geplant zu haben. „Dass Mohammed ohne Vater aufwachsen musste, kreidete er Baschir persönlich an“, sagt die Mutter.

„Mohammed sprach immer davon, wegzugehen“, sagt die Schwester Braa: „Sieben Mal hat er sich bei der Tombola beworben, um eine Green Card für die USA zu gewinnen. Ich habe ihn ausgelacht und gesagt: Du bist der Allerletzte, der geht!“ Er habe auch darüber gesprochen, den „gefährlichen Weg“ zu wagen: Nach Libyen und dann übers Mittelmeer nach Europa. Lieber in Würde sterben, als gedemütigt leben, habe er immer gesagt. Wenn er das Land nicht verlassen konnte, dann wollte er es wenigstens verändern. Im Januar schloss sich Mohammed deshalb dem Widerstandskomitee in seiner Nachbarschaft an.

Die Männer, von denen man sich im Khartum erzählt, sie seien das Rückgrat der Revolution, sitzen in einem Wohnzimmer mit Blumenleuchtern an den Wänden und essen aus großen bunten Plastikschalen Fatteh, ein Gericht aus geröstetem Brot, Joghurt und Minze. „Die Widerstandskomitees sind der Grund, warum das Regime die Revolution nicht von der Straße schießen konnte wie 2013“, sagt Mohammed Yahia. Er ist so etwas wie der Wortführer des Komitees im Stadtteil Burri, das sich als Erstes im ganzen Land gegründet hatte. „Die Regierung war nicht mehr in der Lage, für die Grundbedürfnisse der Menschen aufzukommen: Wasserversorgung, Stromversorgung, Nahrungsmittel, Sicherheit. Da haben wir es selbst in die Hand genommen.“

Die Komitees schaffen es, Hunderttausende zu mobilisieren. „Wir haben diese Regierung an die Macht gebracht, uns ist sie Rechenschaft schuldig“, sagt Mohammed Yahia. Ein bisschen wirken die Männer vom Widerstandskomitee wie Wächter der Revolution. Sie sind aber auch die Wächter über Mohammed Ibrahims Erbe.

Am Mittag des 13. Mai 2019 bittet Umhani Ibrahim ihren Sohn Mohammed, heimzukommen, um gemeinsam Iftar, das Fastenbrechen, zu feiern. Es ist der achte Tag des Ramadan. Mohammed sagt, es werde spät, er müsse noch etwas erledigen, die Revolution warte nicht. Als die Mutter ihn spätabends wieder anruft, ertönt eine fremde Stimme am Telefon:

„Wer ist da?“

„Hier ist Mohammeds Mutter.“

„Mohammed ist tot.“

Einige Stunden später bringen Mohammeds Freunde den Leichnam des jungen Mannes. Getötet durch zwei Schüsse in den Kopf, einen in die Brust. Das Blut tropft noch aus der Sudan-Flagge, in die sie ihn gewickelt haben. Die Freunde erzählen, dass er den Soldaten entgegengerannt sei, als diese die Barrikaden angriffen. Die meisten hätten versucht zu fliehen. Mohammed aber habe seinen Traum von Freiheit verteidigen wollen. Unbewaffnet, mit bloßen Händen. Mit ihm sterben mindestens fünf Demonstranten.

Drei Wochen später, am 3. Juni, stürmen die Sicherheitskräfte die Proteste in Khartum. Sie tragen Uniformen der Polizei, des Militärs und der paramilitärischen Rapid Support Forces. Sie vergewaltigen mehr als 70 Menschen, töten mindestens 128.

Am 17. Juli, eineinhalb Monate nach dem Massaker, unterzeichnen die Spitzen des Revolutionsbündnisses mit den Anführern des Militärrates, der nach Baschir die Macht übernommen hatte, ein Machtteilungs-Abkommen. Drei Jahre wollen sie gemeinsam eine Übergangsregierung bilden, dann soll es demokratische Wahlen geben.

Die Technokraten-Regierung wird vom neuen Ministerpräsidenten Abdalla Hamdok geführt, einem Ökonomen, der viele Jahre für die Vereinten Nationen gearbeitet hat. Ihr stehen der Armee-General Abdel Fattah Burhan und Mohammed Hamdan Dagalo gegenüber, Letzterer besser bekannt als Hemetti – der Anführer der Rapid Support Forces, jener Miliz aus den Zeiten von al-Baschir, die für den Völkermord in Darfur verantwortlich gemacht wird und die sich am Massaker vom 3. Juni beteiligt haben soll. Jetzt schützt Hemetti seine politische Position als Mitglied des Souveränen Rates vor Strafverfolgung.

30 Jahre Kleptokratie

Die neue Regierung ist nun damit befasst, das Ausmaß der Zerstörung aufzuarbeiten, die 30 Jahre Kleptokratie und islamistisch- fundamentalistische Staatsführung hinterlassen haben. Ende November wurde das „Gesetz der öffentlichen Ordnung“ gekippt, mit dem das moralische Verhalten der Menschen kontrolliert und Frauen unterdrückt wurden. Baschirs Partei wurde verboten, eine Frauenquote von 40 Prozent im künftigen Parlament festgelegt und eine Kommission berufen, die das Massaker des 3. Juni aufklären soll. Letztlich werde der Erfolg der Transformation davon abhängen, ob es gelinge, soziale und ökonomische Gerechtigkeit zu schaffen, sagt die Politikwissenschaftlerin Sara Abbas, die an der Freien Universität Berlin zu Regimedynamiken und Genderfragen im Sudan forscht. Die Bewältigung von drei Problemfeldern sei dafür entscheidend: Gelingt es, Frieden im ganzen Land zu etablieren? Findet die neue Regierung einen Umgang mit dem Militär, schafft sie es, die Milizen aufzulösen? Gelingt es, die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen?

Drei Millionen Vertriebene

Über den Frieden wird derzeit in Juba im Südsudan verhandelt, wo die Regierung mit Anführern der Rebellenbewegungen nach Lösungen für die Konflikte in den Provinzen Darfur, Südkordofan und Blue Nile State sucht – und nach Wegen, wie die mehr als drei Millionen Binnenvertriebenen in ihre Heimat zurückkommen können. Schwieriger ist der Umgang mit den Milizen: In drei Jahrzehnten hat sich Baschir ein Netz aus Geheimdiensten, Armee und Milizen geschaffen, deren einzige Aufgabe es war, die eigene Macht und jene des Diktators zu sichern. Und die Wirtschaft? Kleptokratie, Sanktionen und Austerität haben rund 60 Milliarden Dollar Schulden hinterlassen. Noch immer ist nicht bekannt, wie viel Geld die Mitglieder des Regimes im Ausland versteckt haben. Bei der Hausdurchsuchung nach Baschirs Festnahme wurden Millionen Euro und Dollar in bar beschlagnahmt.

Währenddessen ist fast ein Drittel der Jugend arbeitslos – in einem Land, in dem mehr als 60 Prozent der Menschen unter 24 Jahre alt sind. Zehn Milliarden Dollar bräuchte der Sudan in den nächsten zwei Jahren, um die Wirtschaft wieder aufzubauen, sagte Ministerpräsident Abdalla Hamdok nach seinem Amtsantritt. Entscheidend wird dabei sein, ob die USA den Sudan von der Terrorliste streichen, auf die das Land 1993 gesetzt wurde, als Al-Qaida-Chef Osama bin Laden in Khartum Zuflucht fand. Damit gingen Sanktionen einher, die das Land wirtschaftlich weitgehend von der westlichen Welt isolieren.

„Die USA sanktionieren uns, Saudi-Arabien und die Emirate unterstützen die konterrevolutionären Kräfte. Was wir brauchen, ist die Unterstützung der Europäischen Union“, sagt die sudanesische Menschenrechtsaktivistin Nagda Mansour. Im Sudan leben die zweitmeisten Binnenvertriebenen Afrikas und die zweitmeisten Flüchtlinge. „Der Grund, warum Menschen fliehen, ist der gleiche, weshalb sie Revolution machen“, sagt Mansour: „Kriege, Armut und autokratische Regimes“.

Die Europäische Union hat zwar angekündigt, einen Teil der Schulden zu tilgen, den Zugang zu Auslandsinvestitionen zu erleichtern und ein Paket in Höhe von 283 Millionen Euro beschlossen, um die Transformation zu unterstützen. Doch viel Zeit bleibt der sudanesischen Regierung nicht. Die Geduld der Sudanesen ist wie eine Zündschnur: Sie brennt ab, und wenn die Regierung die Erwartungen nicht erfüllt, wird es wieder Proteste geben. Viele der Revolutionäre fürchten sich davor, dass dann das Militär die Macht an sich reißen könnte – oder konservative Kräfte die Chance für eine Gegenrevolution nutzen.

Omdurman, ein Abend Ende November. Umhani Ibrahim hat sich schön gemacht, ein schwarzes Kleid mit Blumenmuster angezogen, sie trägt eine weiße Schärpe, auf die ein Foto ihres toten Sohnes gedruckt ist. Im Viertel findet heute eine Veranstaltung zu Ehren der Märtyrer statt. Auf dem Platz sind Stühle aufgestellt. Rechts sitzen die Frauen, links die Männer. Aus den Boxen dröhnen revolutionäre Lieder. Umhani Ibrahims Gesichtsausdruck ist entschlossen, als sie auf das Podium tritt.

Neben ihr hält ihre Tochter das Bild des toten Bruders. Sie sagt: „Ich habe einen Teil meines Herzens für diese Revolution geopfert. Und ich sage Mohammed hier und jetzt: Du hast die Barrikaden gebaut, um dieses Land zu schützen, aus Liebe zu den Menschen im Sudan. Wir werden deine Mörder zur Rechenschaft ziehen.“ Einige im Publikum applaudieren, Umhani Ibrahim hebt den Zettel mit ihrer Rede in die Luft. Sie ruft: „Die Revolution lebt und die Seelen der Märtyrer verdienen nicht weniger als Gerechtigkeit! Blut für Blut! Wir akzeptieren keine Kompromisse!“

Vier Monate warteten Reporter Bartholomäus von Laffert und Fotografin Helena Manhartsberger nach dem Massaker vom 3. Juni auf Visa. Als sie im November endlich vor Ort recherchieren durften, half Iman Osama , die selbst Wochen auf dem Sit-in verbracht hatte, als Dolmetscherin

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