„Woher habt ihr Westdeutsche bloß so einen Hass auf uns Ostdeutsche?“
Interview Die Autorin Kathrin Gerlof war zur Wende 27 Jahre alt, die Künstlerin Anna Stiede gerade mal zwei. Beide sagen: Bei Ostdeutschen bewegt sich viel. Aber für die Westdeutschen beweist Springer-Chef Mathias Döpfner den Stillstand. Ein Gespräch
Der Osten ist bunt. Nur die Wessis verstehen das nicht
Illustration: der Freitag; Fotos: privat, Sibylle Stürmer (unten)
Leipzig lädt zur Buchmesse in die am schnellsten wachsende Stadt Deutschlands – die aber in einem offenbar verfluchten Landesteil liegt: Nach dem Buch des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann über die andauernde Diskriminierung durch den Westen und nach den Hassnachrichten des Springer-Chefs Mathias Döpfner über Ostdeutsche scheint es, als würden weder Ost noch West ihre Vergangenheit los. Ändert sich denn gar nichts, eine Generation nach der Wende? Die Publizistin Kathrin Gerlof ist 1962 in Sachsen-Anhalt geboren, die Theaterkünstlerin Anna Stiede 25 Jahre später in Thüringen. Als sie sich an den weißen, runden Tisch setzen, seufzen sie beide.
Anna Stiede: Eigentlich habe ich so krass keine Lust mehr, über das Thema Ostdeu
Anna Stiede: Eigentlich habe ich so krass keine Lust mehr, über das Thema Ostdeutschland zu sprechen.der Freitag: Oje, das ist ja kein guter Ausgangspunkt für unser Gespräch …Stiede: Ich bin ja gekommen. Aber ich fühle mich wie eine Maschine, die alles ständig wiederholt, und langsam komme ich mir doof vor dabei. Da schreibt wer ein Buch …Sie meinen das Buch des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann: „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“.Stiede: … und jetzt führen wir die ganze Debatte noch mal? Hallo? Es fühlt sich so an, als wäre da eine Wand, gegen die man anredet und anredet, aber sie bewegt sich nie.Kathrin Gerlof: Ich verstehe, dass es nach den vielen Jahren der Demütigung so einen Ausbruch geben kann, und das ist ja Oschmanns Buch: eine Eruption. Aber ich halte es für einen Kurzschluss zu glauben, jemand wie ich könnte in besonderem Maße „die ostdeutsche Mentalität“ oder „die Ostdeutschen“ erklären, nur weil ich 27 Jahre meines Lebens in der DDR verbracht habe. Mir sind im Osten genauso viele Menschen unerklärlich wie im Westen. Mindestens.Stiede: Mir auch.Aber was sollen wir Westdeutschen machen? Den Frust sehen, aber nicht mehr fragen?Stiede: Ich vermisse es, dass Westdeutsche mal selbst reflektieren, was auch sie verloren haben mit der Wende. Da finden viele Projektionen statt. Fühlen Sie keinen Verlust? Ist alles okay so gelaufen, wie es lief, nach 1989?Verlust? Die Bundesrepublik lief doch einfach weiter im Westen.Gerlof: Doch, ich glaube, es gibt eine – wenn auch überschaubare Nische – von Menschen im Westen, die 1989 tatsächlich was verloren haben. Ich habe kurz nach der Wende einen Freund kennengelernt, der mir gesagt hat, er habe einen kleinen Herzinfarkt gekriegt, als er die Grenze von West- nach Ostberlin überschritten hat, angesichts dieses Verlusts: Der real existierende Sozialismus war für einige Linke im Westen ein ernsthafter Versuch und auch ein Korrektiv, ein Einhegen des Imperialismus. Aber das war eine absolute Minderheit. Ich glaube auch, dass sich für die überwiegende Mehrheit im Westen nicht allzu viel geändert hat.Wenn ich die Biografie meiner Familie betrachte, würde ich sagen: 1989 ist nichts Wesentliches passiert für uns.Stiede: Nein, das kann ich so nicht gelten lassen. Wenn für Sie nichts passiert ist 1989, wenn der Osten Sie gar nichts angeht, was ist denn dann Ihr Problem? Wie kann es dann sein, dass Sie so über den Osten oder über Ostler sprechen? Wieso sagt dann so ein Döpfner, dass er uns „eklig“ findet?Ich soll Ihnen erklären, was den Springer-Chef Mathias Döpfner geritten hat, als er schrieb, er finde „die Ossis“ „eklig“?Stiede: Mein Gefühl ist: Die Westdeutschen haben ihren Giftmüll in den 1980ern in der DDR abgelagert, und genauso funktioniert das weiterhin. Alle giftigen Stoffe, aller Müll wird auf den Osten – oder auf Migrant*innen – projiziert, anstatt gemeinsame Reflexionsprozesse zu finden: eine gemeinsame Aufarbeitung der Treuhand-Politik, eine gemeinsame Aufarbeitung des Klassismus und Antikommunismus, der Ostler*innen entgegenschlägt. Sagen Sie es mir: Woher kommt denn dieser Klassenhass im Westen? Da muss doch was nicht stimmen bei Ihnen.Uff. Ich würde sagen: Unter neoliberalen Leistungsfanatikern will niemand mit dem Verlierer-Kind spielen. Im Osten gibt es keine Führungskräfte, keine Professorinnen, niemanden, der für mein Leben womöglich eine wichtige Rolle spielen wird? Wieso sollte ich mir das dann anschauen? Im schlimmsten Fall kann so eine Haltung bis ins Faschistische rutschen.Gerlof: Aber es gab nach der Wende durchaus ein Momentum der Euphorie, des Willkommens. Ich weiß noch, wie ich 1994 nach Bonn gefahren bin, Angela Merkel war gerade Umweltministerin geworden, und ich wollte sie interviewen. Ich hielt bei einer Telefonzelle, um zu fragen, ob es bei dem Termin bleibt. Als ich dort stand und nach dem Zettel mit der Nummer kramte, kam ein sehr netter Mann, riss die Tür auf und erklärte mir, wie das Telefon funktioniert – und zwar unglaublich freundlich! Im ersten Augenblick dachte ich: Du Arsch. Im zweiten: Naja, der sieht hier diesen alten Lada mit einer Ostberliner Nummer, der will einfach nur nett sein. Da gab es viel Unwissen über uns Ostdeutsche – aber anfangs auch eine Neugier. Die sich allerdings sehr schnell verstoffwechselt hat. Und dann kamen die Zuschreibungen.„Für die in Bonn waren wir die totalen Aliens!“Welche Zuschreibungen?Gerlof: So, wie die dachten, dass wir waren, waren wir nicht, es folgte Enttäuschung, und dann machte man es sich einfach: Man clusterte uns. Nicht Demokratie können. Mit Freiheit nichts anfangen können. Undankbar sein. Unflexibel sein. Versatzstücke mit unglaublicher Haltbarkeit.Stiede: Ich finde es total interessant, dass Sie sagen, es gab am Anfang eine Neugier im Westen. Woher kam dann das Abwenden? Waren das wirtschaftliche Erwägungen: Oh, dieser Osten kostet uns doch zu viel?Gerlof: Nein, es war schnell klar, dass der Osten eine gewaltige Aufschwungs- und Investitionsmaschine für die Bundesrepublik war. Der Osten hat der kleinen BRD keineswegs wirtschaftlich geschadet, im Gegenteil. Dieses Nicht-Interessieren für die Ostdeutschen, das liegt nicht in der Wirtschaft, sondern, das sehe ich wie Elsa Koester: Es hat die Westdeutschen nicht interessieren müssen. Im Gegensatz zu den Ostdeutschen, die auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen waren, dieses straffe Lernprogramm durchzuziehen: Wie funktioniert die BRD und wie sind diese Menschen? Wie kommt man mit denen klar?Und über Sie hat sich das niemand gefragt?Gerlof: Dazu noch eine kleine Geschichte: Ich habe vom 3. Oktober 1990, also vom Tag der Deutschen Einheit, bis Februar 1991 in Bonn gearbeitet, bei der Pressestelle der PDS, in diesem Rumpf-Bundestag, bis zu den ersten gesamtdeutschen Wahlen. Ich habe jede Woche in einer anderen Pension gewohnt, musste mich immer anmelden. Zwei Dinge sind passiert: Ich bin immer aufgefordert worden, statt „BRD“ „Bundesrepublik Deutschland“ zu schreiben. Und mir wurde gesagt, ich solle bitte keinen Männerbesuch empfangen. Die haben sich gefragt: Wie tickt diese ostdeutsche Frau? Da weiß man nie! Da wurde es mir klar: Wir waren die totalen Aliens. Und die in Bonn können es bis zu ihrem Lebensende unterlassen, sich mit diesem Ossi zu beschäftigen – es wird ihnen nichts passieren.Stiede: Das ist aus demokratietheoretischer Sicht eine Katastrophe: Da wird eine Demokratie installiert, aber es gibt null Interesse daran, dass irgendwer dort sich an dieser Demokratie beteiligt – außer die Stimme abzugeben. Ostdeutsche Lebenserfahrungen, Wünsche, Interessenlagen in die Demokratie einzubeziehen? Mitmachen? Gibt’s nicht. Aber dann wird dem Osten Demokratieunfähigkeit attestiert.Und wer keine Macht hat, mit dem beschäftigt man sich nicht. Das war so bei Gastarbeitern, das war so bei Ostdeutschen. Heißt das: Wenn mehr Ostdeutsche aufsteigen, wenn sich ostdeutsches Kapital und ostdeutsche Macht bildet, dann beschäftigt sich der Westen mit dem Osten?Gerlof: Da berühren Sie einen Punkt. Das letzte Momentum des machtvollen Selbstbewusstseins im Osten war 1989. Von da an war fast alles fremdbestimmt. Obwohl etwas anderes vereinbart war! Es war vereinbart, dass es eine gemeinsame Verfassung geben wird – stattdessen dieser unsägliche Einheitsvertrag, der Beitritt.Eine neue OstidentitätStiede: Westdeutsche haben aber auch vergessen, was für Selbstbestimmung die Ostdeutschen 1989 geliefert haben. Ich sprach für unser Theaterprojekt Treuhand Techno mit Johannes Ludewig, der 1989/1990 im Kanzleramt arbeitete. Ludewig erzählte, wie absurd er die damaligen Forderungen der DDR fand: Das Volkseigentum der Bevölkerung in Form von Anteilsscheinen auszuhändigen. Das sei total größenwahnsinnig gewesen von DDR-Regierungschef Hans Modrow und der Wirtschaftsministerin Christa Luft. Ich fragte ihn: Na, Sie wissen aber schon, dass das keine Forderung von zwei Regierungsmitgliedern war, sondern vom Runden Tisch? Von den Bürgerinnen und Bürgern?Wieso haben die Bürgerinnen und Bürger nicht selbst mehr gekämpft für diese Forderung des Runden Tisches?Gerlof: Ich spüre diesen Frust bei ostdeutschen und westdeutschen Linken, und ich verstehe ihn. Aber man muss sich klarmachen, wie es nach 1989 war: Man saß in diesem Zug, und plötzlich kam der Schaffner und sagte, du, pass mal auf, der Zugführer ist gerade in Ohnmacht gefallen, da vorne ist ja die Lok, die ist jetzt leer, stell dich da mal bitte hin, fahr diesen Zug, hier ist übrigens das Handbuch, aber du kannst das Handbuch nur parallel dazu lesen, wir sitzen ja in diesem Zug, und der fährt, ja, aber es ist total übersichtlich aufgebaut, das Handbuch, also lies es einfach schnell, aber vergiss bloß nicht, dieser Zug muss immer fahren, ich legte dir das Handbuch jetzt einfach mal hierhin, okay, lern es und fahr. Da musste man schon fähig zum Multitasking sein! Und das waren ja auch viele, nur eine Minderheit hat ihren Beruf behalten können. Deshalb hat mich der Vorwurf der nichtvorhandenen Flexibilität am meisten gekränkt.Stiede: Inzwischen kennen wir das Handbuch auswendig und fahren, jetzt ist wieder Zeit, zu überlegen: Wohin eigentlich? Hier tut sich gerade viel unter jungen Leuten.Sehen Sie eine neue Ostidentität?Stiede: Ja, die Fähigkeiten, die man im Osten stärker hat als im Westen, die werden gerade neu entdeckt und gepflegt, etwa eine Rückbesinnung auf Nachbarschaftlichkeit. Eine Suche nach dem, was das Miteinander ausmacht. Leer stehende Industriebauten werden zurückerobert und für Kunstprojekte und Gemeinschaftsräume genutzt: Im Kühlhaus in Görlitz etwa, wo junge Leute BMX-Rad fahren, Ateliers für Künstler*innen gebaut wurden und ein Campingplatz für Reisende. Es entsteht eine neue Ost-Kultur unter jungen Menschen, die von der alten Ost-Kultur das aufbereitet, was sie hilfreich findet.Gerlof: Ich nehme in der jungen Generation auch viel Aufarbeitung wahr. Mein Sohn fragt mich oft zu unserer Vergangenheit, will von mir all die Bücher über den Osten, die ich schon weggestellt hatte.Stiede: Es gibt einiges zu lernen von der Veränderungskompetenz Ihrer Generation. Aber ich nehme auch eine Gespaltenheit unter den über 50-Jährigen wahr: Die einen sind stolz auf das, was sie geleistet haben, und wollen es für den Strukturwandel nutzen. Andere wollen so eine Transformation nicht noch mal durchmachen, halten an der Kohle fest, und ihre Kinder und Enkel tun das dann auch.Gerlof: Wir dürfen eine andere grundlegende Erfahrung im Osten nicht vergessen: Die versprochene Veränderung war eine Lüge. Wenn ich mir aus dieser Erfahrung heraus das grüne Transformationsgerede anhöre, komme ich vielleicht zu dem Schluss, dass ich es nicht noch mal will, weil ich nicht noch mal belogen werden will.Weil Sie nicht noch einmal so enttäuscht werden wollen?Gerlof: Ich bin bereit für eine tiefgreifende Änderung und all die Folgen, die es auch für mich haben wird. Aber meine Bereitschaft, mir noch mal so ein Märchen von blühenden Landschaften erzählen zu lassen, geht gegen null. Es wird gerade viel über Transformation geredet, und am Ende landen wir möglicherweise wieder genau hier. In der Klimakatastrophe.Der neue Osten: Zwischen Tesla und HypezigSie haben also keine Hoffnung in die gründe Wende im Osten? In den Aufschwung durch Tesla, durch Batterie-Fabriken, die Green Economy?Stiede: Tatsächlich dürfen wir nicht unterschätzen, welchen Einfluss kapitalistische Interessen auf die Entwicklung von Gesellschaften haben. In der Oberlausitz haben mir Kleinunternehmer gesagt, sie fänden unsere antirassistische Arbeit wichtig – weil sie Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen!Gerlof: Ich bin da sehr skeptisch. Tesla und andere sehen im Osten jetzt ihre Chance für eine Ansiedlung von Großindustrie – auf die De-Industrialisierung folgt also eine Re-Industrialisierung. Ist das die Lösung? Man hätte die plattgemachte ostdeutsche Landschaft doch nutzen können, um eine neue Art der Landwirtschaft zu erproben, oder der Mobilität. Stattdessen: Elektroautos, für die wir dann seltene Erden verballern? Das soll das 21. Jahrhundert sein?Stiede: Da kommen die Elon Musks aus den USA und verwirklichen ihre Träume, Selbstbestimmung für den Osten ist das nicht – aber die gibt es! In der Lausitz gab es früher eine Menge Obstbaumwiesen, die wurden in den 1990ern plattgemacht. Jetzt wird dort aufwendig versucht, die zubetonierten Wiesen zu renaturalisieren, für lokales Obst. In jeder ostdeutschen Stadt findet man heute Leute, die – auch sehr schweißtreibend – was Cooles hinbauen: Cafés, Kulturräume. Es gibt in der Lausitz die Initiative F wie Kraft: Die weint nicht den vielen Frauen hinterher, die aus dem Osten weggegangen sind, sondern arbeiten mit den vielen Frauen, die dort sind, die dorthin ziehen oder zurückkehren.Und das sind viele: Leipzig, das inzwischen Hypezig genannt wird, ist die am schnellsten wachsende Stadt in Deutschland!Gerlof: Auch in die Uckermark kommen jetzt viele kunstschaffende Berlinerinnen und Berliner, die es in der Großstadt nicht mehr aushalten. Aber nicht alle finden das so toll, da kommt es dann auch zum Clash mit denen, die schon lange dort wohnen.Ist es nicht genau das, was Ihnen früher gefehlt hat: Der Clash zwischen West und Ost? Die jungen Westdeutschen sind in der Uckermark jetzt gezwungen, sich mit dem Osten auseinanderzusetzen?Gerlof: Das ist schon eine positive Entwicklung gegenüber den 1990ern, in denen Westdeutsche, die in den Osten gingen, eine sogenannte Busch-Zulage bekamen!Was war das denn?!Gerlof: Na, so nannte man das inoffiziell: Sie haben eine Zulage auf ihren Lohn bekommen, quasi als Prämie dafür, dass sie in diese sibirische Diaspora mussten. Eine Art Schmerzensgeld. Wenn es heute eine andere Art des Hierherkommens gibt, eines, das die Vorteile des Ostens erkennt, dann ist das ein großer Schritt.Stiede: Aber Vorsicht, das Berliner Umland und Leipzig sind nicht der ganze Osten. Wenn wir vom ländlichen Raum sprechen, sieht das zum Teil anders aus. Da gibt es viele Konflikte um die Frage, wie wir leben wollen. Und die Auseinandersetzung mit der AfD ist ein alltäglicher Kampf um die Richtung, die unser Zug nehmen soll. Aber immerhin gibt es unter jungen Menschen einen starken Gegenpol zu dieser rechten Vision.Gerlof: Das ist auch eine Frage der Generationen. Ihre Generation, die auch die Generation meiner Kinder ist, muss sich weniger mit diesem Schmerz auseinandersetzen. Damit meine ich nicht nur die Demütigung der Busch-Zulagen. Sondern den Schmerz, unglaublich viele Fehler gemacht zu haben.Stiede: Sie meinen in der DDR?Gerlof: Ja. Der Schmerz, sich immer wieder sagen zu müssen: Okay, wir haben es auch selber verkackt.Stiede: Meine Generation spürt diesen Schmerz. In meiner Theatergruppe Panzerkreuzer Rotkäppchen, mit der wir regelmäßig durch das ostdeutsche Hinterland touren, arbeiten wir im aktuellen Projekt The East in me zum „Gefühlsraum OST“ und sprechen dort von einem „Phantomschmerz“. Das ist ein Schmerz über den Verlust von etwas, das wir nicht selber erlebt haben. Aber mich schmerzt Ihr Schmerz über Ihre Fehler, denn unserer Vergangenheit entnehme ich eine große Lust darauf, fehlerfreundlich zu sein. Wir leben in einer sehr vermarkteten Welt mit großem Druck der Selbstoptimierung, und was ich aus der ostdeutschen Identität ableite, ist der Wunsch nach einer größeren Zärtlichkeit zu uns selbst: sich zugestehen zu dürfen, Fehler zu machen.„Ich möchte zärtlich sein – und fehlerfreundlich“Gerlof: Das stimmt, aber dafür kommt halt die Arbeit, sich seiner Fehler bewusst zu sein. Das war nach der Wende ein langer Prozess und notwendig für meine und die noch ältere Generation. Wir waren daran beteiligt, den Versuch, eine Idee umzusetzen, an die Wand zu fahren. Und nun ist die Tür erst mal für lange Zeit zu.Dirk Oschmann weist darauf hin, welche wichtigen Männer der Bundesrepublik für die NSDAP und die SA gearbeitet haben – Werner Haftmann etwa, früherer Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Nach seiner Vergangenheit fragte keiner.Gerlof: Aber die grundsätzliche Frage: Wie warst du in der DDR? Die finde ich nicht unberechtigt, wenn sie von Menschen kommt, die wirklich ein Interesse daran haben – und nicht einfach nur einen Schuldvorwurf machen wollen. Und ich glaube, dass Sie da ein bisschen anders sein können, in der Generation nach mir. Das schafft die Möglichkeit für einen anderen Blick. Mein Sohn befragt meine Eltern, die die DDR ja von Anfang bis Ende miterlebt haben und noch mal eine größere Trauer verspüren, nicht nur mit großer Unbefangenheit und Neugier, sondern auch ohne jeden Schuldvorwurf. Das birgt eine Chance.Stiede: Aber dafür wäre es gut, wenn die Befragung gemeinsam stattfände. Frau Gerlof, da fand ich Ihren Kommentar zum geplanten Zukunftszentrum für die Deutsche Einheit toll. Sie haben die Frage gestellt: Was soll das jetzt eigentlich in Halle? Ich erlebe leider, wie unsere Theaterprojekte, die sich mit der Treuhand und anderen Ost-Aspekten im sogenannten wiedervereinigten Deutschland beschäftigen, bei westdeutschen Institutionen oder Theaterfestivals keine Unterstützung finden.Gerlof: Auf solche Ablehnung möchte man manchmal sagen: Okay, dann sind wir halt der Osten und bleiben es. Aber dann richtig.Ist das nicht genau die Haltung der AfD: „Ihr findet, wir sind Schmuddelkinder, unfähig zur Demokratie – okay, dann schaut her, so sind wir, und was jetzt?“Gerlof: Das meine ich ganz sicher nicht mit „dann richtig“. Richtig Osten ist für mich solidarisch und transformationsmutig. Wenn andere das schmuddel finden …Stiede: Es gibt diese Zerrissenheit: Brauchen wir im Osten erst mal Selbstverständigung, oder sollen wir den Dialog suchen? Ich persönlich habe überhaupt kein Interesse daran, mich von Westdeutschen abzugrenzen, aber wenn ich die ganze Zeit um diesen Dialog ringen muss, nervt’s einfach.Gerlof: Es kann auch Spaß machen, Westlern den Osten zu zeigen! Ich habe mal Zigarettenwerbung gemacht …Stiede: … echt?! Wie kam das denn?Gerlof: Ja, naja, es war nach der Wende, ich hatte zwei kleine Kinder und musste sehen, wie ich die durchkriege. Philip Morris und Reemtsma hatten sich den Markt für ostdeutsche Zigaretten aufgeteilt. Ich war von Philip Morris als Texterin eingekauft und dafür da, den westdeutschen Grafikern und Campaignern im Team zu erklären, wie Ostdeutschland tickt. Ich habe Fragen beantwortet und die Leute angesprochen, das war eigentlich zum Brüllen komisch. Ich denke gerne daran zurück.Stiede: Ich biete ja Bildungsreisen nach Ostdeutschland an. Eine hat bereits stattgefunden mit Teilnehmerinnen aus der Schweiz, dieses Jahr mache ich noch eine – mal sehen, ob sich auch mal Westdeutsche für so eine Reise anmelden. Ich wünsche mir jedenfalls ein größeres gegenseitiges Interesse. Und so ein Einheitsmuseum braucht es nicht in Halle ...Gerlof: ... sondern in Frankfurt am Main. Oder im Saarland!Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1