Wohin fliegen die NATO-Jets?

Privatdiplomatie Wo die Politik versagt, bauen kleine Leute Brücken: ein Lob der alltäglichen Friedensarbeit in binationalen Ehen
Ausgabe 47/2021

Tagsüber streiten sie viel: Politik, Moral, Erziehung, Geschichte. Sie fühlen sich, als seien sie in verschiedenen Welten aufgewachsen. Aber nachts, auch nach einer Streiterei, halten sie sich in den Armen, als seien sie gerade aus einem brennendem Haus entkommen.

Ein Deutscher und eine Russin in einem Land, in dem aus der Sicht der Russin Bedrohliches wächst. Die Wahrnehmungen von Mann und Frau in binationalen Ehen unterscheiden sich oft – ob der Vorgeschichten, der Erziehung, der Bildung. Aber in einer deutsch-russischen Ehe gibt es noch einen besonderen historischen Hintergrund. Als kurz vor Corona „Defender 2021“ stattfand – das größte NATO-Manöver in Norddeutschland –, war der Lärm militärischer Flugzeuge für die Russin eine Qual. „Wohin fliegen die?“, fragte sie. „Ich habe nichts gehört“, antwortete manchmal der Mann. Flugzeuge machen Lärm. Für ihn war das womöglich ein „Defender“, etwas Beruhigendes.

Der Mann kommt aus dem Westen, die Frau aus dem Osten. Beide sind ähnlich „gebildet“, doch das Denken ist verschieden. Liegt es daran, dass der Mann wissenschafts- und staatsgläubig ist und die Frau nicht? Er ist in einem kapitalistischen System aufgewachsen, sie in einem sozialistischen; bewusst erlebte sie zwei Systeme.

Meistens geht es bei den beiden um die Kriege auf der Welt und deren Ursachen: Rohstoffe, Land- und Machtgewinn. Aber auch um die vergessenen Helden, die man manchmal abfällig „Truther“ nennt. Jüngst nennt der Deutschlandfunk die Klage der russischen Generalanwaltschaft gegen die Organisation „Memorial“ einen „Schock für die Welt“. Sie fragt den Mann: „Warum nicht mit gleichen Worten die Zerstückelung von Kaschoggi und die brutale Behandlung von Assange?“ Der Kampf für Menschenrechte soll alle umfassen, und die Namen der Mutigsten sollen für keinen Tag vergessen werden.

Putin, Corona, Nordkorea ...

Kriege verursachen Migrationen, der Klimawandel kommt hinzu. Sie meint, auch die EU instrumentalisiere Migranten an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Er hält Alexander Lukaschenko allein für schuldig. Das Coronavirus legt er China zur Last, das ein „Labor-Leak“ verursacht habe, auch wenn in US-Auftrag geforscht worden sei. Sie meint, dass die Forschung an Viren gefährlich bleibt und uns mehr Pandemien aus Laboren erwarten.

Er sieht in Wladimir Putin den Grund für den Verfall der deutsch-russischen Beziehungen. Sie erinnert an dessen Bundestagsrede von 2001, als er Michail Gorbatschows Vision vom Europäischen Haus aufrief – und lang genug „an die Tür Europas geklopft“ hat. Er meint, Deutschland rüste ja ab, siehe Wehrpflicht. Die Osterweiterung der NATO, aber auch russische Fehler hätten Vertrauen zerstört. Dieses könne man aber zurückgewinnen. Europa solle die Ukraine wirtschaftlich und militärisch „stabilisieren“ und den Bruderkrieg beenden helfen. Sie sagt, es gäbe ohne NATO-Osterweiterung keinen Ostukraine- und keinen Krimkonflikt. Die Russen sind überzeugt, dass Putin eine NATO-Basis auf der Krim verhindert hat. Die strategische Einkreisung Russlands ist in vollem Gange, sagt sie. Die amerikanischen Raketen in Polen und Rumänien – angeblich gegen Iran – zerstören noch mehr Vertrauen, denn die Russen sehen sie als Bedrohung.

Nordkoreas Diktator ist ein Friedensrisiko, meint der Mann. Der Westen bringt sein Volk hinter ihn mit jährlichen Manövern vor der nordkoreanischen Küste, sagt die Frau. Drohungen ohne Ende anstatt Entspannung und Friedensarbeit. Sie bewundert deutsche Friedensinitiativen, die Zeitschrift FriedensForum, das Münchner Friedensbündnis.

Es ist nicht nur Privatsache, zusammenzuhalten und Differenzen auszudiskutieren, meinen sie beide. Wie viele kleine „private Brücken“ bauen binationale Familien in Deutschland? Bei 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund? Wo so viele Politiker mit Unverständnis und Un-Diplomatie so viel zerstören, sorgen „kleine Leute“ für binationalen und interreligiösen Austausch, um der Kinder und Enkel willen. Die Brücken müssten bestehen. In den Familien soll debattiert werden, auch wenn es mal nicht ruhig und vernünftig zugeht. Gerade in den schwierigen Zeiten von Corona, Aufrüstung, Klima- und Wirtschaftskrisen.

Kluge Politiker sagen, die Kontakte dürfen nicht abbrechen, gerade jetzt nicht. Sie scheinen eine Minderheit zu sein. So geht es den Klügsten und Mutigsten. Aber „die Kleinen“, die in den Medien nicht vorkommen, die dürfen ihren Brückenbau nie aufgeben. Es geht um das Wertvollste, das die Völker der Welt haben, den Frieden.

Vera Bade ist Journalistin in Schleswig-Holstein

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