Wohltuend weltoffen

Evangelischer Kirchentag Trotz des begonnenen Wahlkampfes verkam das Ereignis nicht zu einer Talkshow mit protestantischen Mitteln

In Hannover erhielt an vier Tagen und in vier Nächten das Gestalt, was oft hochtrabend und allgemein Zivil- oder besser: Bürgergesellschaft heißt. Den Tausenden, die bereit waren, den zahlreichen Podien 120 oder gar 180 Minuten lang ununterbrochen zuzuhören, genügten keine wohllautenden Floskeln oder Formeln; sie wollten wissen: Wie handelt man, wenn man euch glaubt? Oder: Wie handelt ihr, wenn ihr wirklich ernst nehmt, was ihr sagt? Und sie setzten nach: Warum antwortet ihr nicht auf die Fragen, die euch gestellt werden, so etwa der Brasilianer Antonio Andrioli, als er Gerhard Schröder nach den Konsequenzen eines unfairen Welthandels fragte und der Kanzlers dies einfach an sich abperlen ließ. Vier ermutigende Tage inmitten von 105.000 Dauerteilnehmern, die erstaunlich konzentriert und verständigungsbereit diskutierten. Das ist auch Deutschland. Und das ist möglich!

Als der Kirchentag begann, waren Analysten und Kommentatoren Mitte vergangener Woche noch vollauf damit beschäftigt, den Wahlcoup des Kanzlers zu verarbeiten. Da war unter den so nicht erwarteten Umständen der Konflikt zwischen Medien und Kirchentagsgemeinde programmiert. Während die einen es für geboten hielten, dem Bundestagswahlkampf in ihren Blättern schon viel Raum zu geben, empfanden die Kirchentagsteilnehmer mehrheitlich keine Lust, sich als Claqueure eines traditionellen Wahlkampfes vereinnahmt zu sehen, sondern forderten stattdessen zum Dialog auf, zum aufrichtigen Wettstreit der Ideen.

Beim "Forum Heimat" wachten über 70 Reporter und Dutzende von Kamerateams über jede Bewegung und Regung der Podiumsgäste Angela Merkel und Franz Müntefering und erwarteten die offizielle Wahlkampferöffnung. Doch es ging erstaunlich moderat zur Sache, man hörte einander zu, statt sich gegenseitig ins Wort zu fallen. Auf dem Podium saßen schließlich sechs Persönlichkeiten, die etwas zu sagen hatten - am darauffolgenden Tag allerdings sahen sich von den Medien nur zwei mit Aufmerksamkeit bedacht: Merkel und Müntefering, gerade noch fand der grüne Politiker Cem Özdemir Erwähnung. Von den anderen - kompetenten europäischen Politikern aus Frankreich und Ungarn - kein Wort. Auch die Beiträge der türkischstämmigen Soziologin Necla Kelek verfielen medialer Ignoranz.

Und dabei hatte sich der Kirchentag ein Motto gegeben, das einer Herausforderung gleichkam: "Wenn dein Kind dich morgen fragt..." Gerade das sollte verbindliches Reden provozieren, denn Kinder spielten in Hannover wirklich eine Rolle. Erstmalig eine große. Endlich nicht mehr ausgeschlossen von der Erwachsenenwelt. Kinder - ein Geschenk und kein Rentenfaktor. Anlass zu Meditation und Analyse, die einander auf selbstverständliche Weise ablösten und vermeiden halfen, dass unsere Lebenswelt in eine Alltags- und eine Sonntagswirklichkeit gespalten wurde.

Engagiert wurde geredet, aber ganz selten ideologisch. Um Wasser und Luft, um unser Klima und um unsere Energiequellen ging es, aber auch um das tägliche Brot - für Leib und Seele. Der Kirchentag war hochpolitisch und ganz religiös. Auf eine selbstverständliche Weise fanden sich schließlich etwa 300.000 Bürgerinnen und Bürger zusammen, die sich zwar durch "die große Masse" gestärkt fühlten, aber doch einzelne kritische (wie selbstkritische) mündige Mitbürger bleiben wollten. Hier zeigte sich, was protestantisches Profil heute bedeuten kann.

Der Götze Reichtum, die Ideologie des Neoliberalismus, der ausgeplünderte Planet, die arrogant störrische Hegemonialmacht USA wurden Zielscheibe kritischer Geister, ohne dass übersehen wurde, wie sehr wir alle Teilhaber und Nutznießer des Systems sind. Alle hielten den Atem an, als die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai von ihrem Baumpflanzprogramm ebenso bewegend sprach wie von der stets gefährdeten, stets zu erkämpfenden Demokratie.

Aber auch die Grenzen bei kontrovers angelegten Gesprächen traten zutage. Man spürte beklemmend, wie Kardinal Lehmann versuchte, nichts zu sagen: Nichts von dem, was er vielleicht selber denkt - dann steigt ihm Rom aufs Dach. Oder öffentlich zu vertreten, was Rom sagt - dann steigen ihm die Zuhörer aufs Dach.

Was ist geschehen, sollte dieser Kirchentag nun doch die inoffizielle Wahlkampferöffnung gewesen sein? Dann könnte uns ein durchaus substantieller Wahlkampf bevorstehen - einer, der die Bürger ernst nimmt, selbst beim Wort genommen werden will und am Wahltag zu einer wirklichen Entscheidung einlädt. Ein solcher Wahlkampf könnte sogar dazu führen, dass er die größte Volkspartei - die Partei der Nichtwähler - in ernsthafte Bedrängnis bringt.

"In einem reichen Land ist Armut keine Tragödie", erklärte der Kirchentagspräsident zum Abschluss und alle hielten den Atem an, bis er fortfuhr: "Sie ist ein Skandal."


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