Wohnungsbesichtigung

Kehrseite II Seitdem in meiner Wohnung die Bücher bis in die Küche wachsen, muss ich mir größere Räumlichkeiten suchen. ...

Seitdem in meiner Wohnung die Bücher bis in die Küche wachsen, muss ich mir größere Räumlichkeiten suchen.

Neulich habe ich eine Wohnung besichtigt, die von der Lage und Größe her eigentlich sehr schön war. Ich müsste sagen: Ich habe versucht, sie zu besichtigen, aber es war mir nicht möglich, weil ich zu schamhaft war.

In dieser Wohnung standen überall Phallussymbole herum. Aus Stoff, aus Gips, aus Ton, in allen Formen, Farben und Größen. In jeder Ecke, in die ich gucken wollte, entdeckte ich einen Stoffpenis oder eine naturgetreu nachgebildete Riesen-Eichel aus Ton. Kein Material und keine Penisgröße waren ausgelassen. Von daumengroßen bis oberschenkeldicken Penissen war alles vorhanden. Ob sie verwendet wurden oder nur Zierde sein sollten - ich habe versucht, nicht darüber nachzudenken. In einigen Zimmerecken standen auch kopulierende Pärchen aus Gips oder Plastik, die sich dringlich umeinander schlangen.

Ich ließ also nur flüchtige Blicke durch die Zimmer schweifen, ohne weiter in die Räume einzudringen (um nicht über einen Penis zu stolpern) und sagte: Ja, ja, sehr groß, sehr schön. (Ich meinte die Wohnung, nicht die Penisse). Die Frau, der die Wohnung gehörte, schien meine Verlegenheit nicht zu bemerken. Sie sagte immerzu: Sehen Sie sich nur um, Sie dürfen ruhig hinein gehen. Fassen Sie ruhig alles an. Nur keine Scheu.

Als ich eine Gardine zur Seite zog, um nachzusehen, ob die Fenster neu waren, stand hinter der Gardine natürlich auch ein Gipspenis. Ich ließ die Gardine erschrocken wieder zur Seite fallen und hoffte, dass der Frau klar war, dass mich die Fensterverglasung und nicht der Penis interessiert hatte. Der Penis hatte ein Smiley-Face aufgemalt und zwinkerte.

Um irgendwie von diesem Übermaß an männlichen Genitalien und meiner Verlegenheit abzulenken, fragte ich nach den Nebenkosten. Die Frau holte einen dicken Leitz-Ordner aus einem Regal (auf dem natürlich ein paar winzige kopulierende Pärchen aus Elfenbein standen) und schlug ihn auf.

"Hier müsste irgendwo die Abrechnung der Stadtwerke sein", murmelte sie.

Sie blätterte ein paar Seiten um.

"Ach, nein, das sind nur meine Scheidungsunterlagen."

Sie blätterte noch ein paar Seiten um.

"Hier müssten sie doch sein", meinte sie. "Aber hier sind nur die Unterlagen von meiner Scheidung, komisch."

Sie sprach so laut, dass ich mir sicher war, sie wollte ein Gespräch über ihre Scheidung beginnen. Immer wieder blätterte sie zu den Gerichtsunterlagen zurück, riss die Blätter fast aus dem Ordner und sah mich auffordernd an. Ich ging einen Schritt zurück und trat mit der Ferse auf einen Hodensack aus Schaumgummi. Der dazugehörige Penis fiel gegen mein Knie und rutschte dann langsam an meinen Waden hinunter zu Boden. Ich fasste ihn mit spitzen Fingern an und richtete ihn wieder auf. Die Frau wühlte unterdessen immer heftiger in dem Ordner, die Nebenkosten fand sie nicht, stattdessen sprach sie das Wort Scheidung immer lauter aus.

Ich hätte sie fragen können, ob die vielen Phallussymbole eine Kompensation für ihre Trennung darstellen sollten, aber ich verließ fluchtartig ihre Wohnung und murmelte etwas von weiteren Besichtigungsterminen.

Schließlich habe ich eine andere Wohnung gemietet, in der keine Stoffpenisse waren und in der mir der Vormieter die Nebenkosten verraten hat, ohne über eine Scheidung oder sonstige persönliche Angelegenheiten reden zu wollen.

Sandra Niermeyer lebt in Bielefeld. Zuletzt erschien im Freitag 26/2007 ihr Text Das geheime Leben meiner Mutter.


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