Wollen die Russen Europa mit Gas erpressen?

Gastkommentar Es war Mitte Dezember, als Sergej Lawrow bei einem Vortrag an der Moskauer Universität dem Westen einen Hang zu unfairer Konkurrenz vorwarf und von ...

Es war Mitte Dezember, als Sergej Lawrow bei einem Vortrag an der Moskauer Universität dem Westen einen Hang zu unfairer Konkurrenz vorwarf und von einer "Ideologisierung der internationalen Beziehungen" sprach. Der Außenminister musste allerdings feststellen, dass die Studenten den Sinn dieser abstrakten Formel nicht verstanden. Also wurde er konkreter und kam auf den Vorwurf aus der EU zu sprechen, Russland erpresse andere Staaten mit seinen Gaslieferungen, und stellte trocken fest: "Dahinter erkennt man die Absicht des Westens, Zugang zu unseren Energieressourcen zu haben, ohne etwas in Retour zu geben."

Es ist kein Geheimnis: Indem die Russische Föderation die Rolle einer "Energiegroßmacht" bewusst wahrnimmt, revidiert sie ihre Beziehungen mit den Abnehmern seiner Rohstoffe teilweise erheblich. Seit dem Preisschock für die Ukraine vor einem Jahr steht außer Frage, dass der Kreml auch politische Rückschläge in Kauf nimmt, um wirtschaftliche Ansprüche durchzusetzen. Im Januar 2006 konnte ein Kompromiss schon deshalb schnell gefunden werden, weil Russlands westliche Gas-Kunden Kiew unter Druck setzten, sich in der Preisfrage zu bewegen.

Die vergangenen Tage ließen gewiss die Überzeugung reifen, dass Gazprom auch bei seinem Gasexport nach Belarus nicht zu scherzen beliebt. Der Versuch der Regierung in Minsk, wegen der Preiserhöhung die Entscheidungsfreiheit des russischen Monopolisten über das System seiner Pipelines auf weißrussischem Territorium einzuschränken, war nicht akzeptabel. Nun löst die Härte, mit der Gazprom-Chef Alexej Miller den Energiedialog mit dem Nachbarn führt, im Westen erneut eine Welle von Anschuldigungen aus: Russland sei versessen darauf, seine Energiemacht rücksichtslos auszuspielen und gebärde sich wie ein Erpresser. Offenbar haben die ökonomischen Realitäten in einigen europäischen Metropolen dem fast schon vergessenen Vokabular des Kalten Krieges zu neuer Blüte verholfen. Dies um so mehr, als Alexej Miller von neuen Märkten und potenziellen Abnehmern in der asiatisch-pazifischen Region spricht. Gazprom plant schon in nächster Zeit einen Liefervertrag mit China, was - um noch einmal Miller zu zitieren - sein Unternehmen nicht daran hindern werde, "die Verpflichtungen gegenüber Europa in vollem Umfang zu erfüllen und parallel dazu die Kooperation mit der asiatisch-pazifischen Region zu entwickeln".

Keine leeren Worte, wie die Fortschritte beim Bau der Ostseepipeline bezeugen, die das Gazprom-Transfersystem direkt an die Gasverteilung Europas anschließt. "Das ist unser konkreter und gewichtiger Beitrag, um die Energiesicherheit der europäischen Länder zu garantieren", heißt es. Hinzu kommen die überaus ernsthaften Pläne von Gazprom, eine neue Transportroute nach Europa über die Türkei mit Hilfe der Pipeline Blauer Strom einzurichten. All das entkräftet Spekulationen über eine Umstellung russischer Gasexporte vorzugsweise auf den Osten.

Aber der Westen fühlt sich dennoch beunruhigt, weil Russland mit seiner ständig wachsenden Liefermenge Europa immer stärker an sich bindet. Die zuweilen hysterischen Reaktionen sind freilich kein Phänomen unserer Tage - es gab sie schon während der achtziger Jahre, als die Gasfernleitung Urengoi-Pomary-Uschgorod gebaut wurde. Seinerzeit wurde gleichfalls eine unzulässige Energieabhängigkeit von der Sowjetunion beklagt. Inzwischen sind mehr als zwei Jahrzehnte verstrichen, in denen es nicht einen einzigen Anlass gab, an der Zuverlässigkeit der russischen Energieversorger zu zweifeln. Genau genommen ist die Russische Föderation nicht weniger von den westlichen Abnehmern abhängig als die von ihr. Insofern kann man sich keine Erpressung leisten - davon zu reden, ist nichts als Bluff. Niemand kann überzeugend beschreiben, wie eine mutmaßliche Nötigung der westlichen Demokratien eigentlich aussehen könnte. Selbst im Kalten Krieg besaß der Handel zwischen Russland und Westeuropa ein hohes Maß an Resistenz gegenüber jedwedem politischen Klimawandel. Sergej Lawrow meinte denn auch beim eingangs erwähnten Vortrag an der Lomonossow-Universität: "Es gibt viel mehr Momente, die uns mit dem Westen verbinden, als solche, die uns trennen".

Der Autor ist Kommentator der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti.


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